Über Nacht in der Hölle
«Dann kamen die Taliban an die Macht und alles änderte sich. Keine Bildung mehr für Frauen und Hausarrest. Im Versteckten habe ich jedoch weiter Infusionen gelegt und Spritzen gegeben – zuhause und auswärts. Eines Abends wurden mein Vater und ich auf dem Rückweg von einem dieser ‹illegalen› Einsätze erwischt. Einer der Taliban hielt mir seine Waffe an die Stirn, der andere bedrohte meinen Vater. Mein Vater flehte in ihrer Sprache (Paschtu), die er im Militär gelernt hatte, um unser Leben. Wir hatten unglaubliches Glück. Doch ab diesem Zeitpunkt war es vorbei mit Spritzen geben und Infusionen legen.
Die Flucht
Nach über zehn Jahren in dieser Hölle flohen mein Mann und ich mit unserem damals fünfjährigen Kind aus Afghanistan. Unser Ziel war Schweden. Wir mussten das Kind auf unseren Schultern tragen, zehn Stunden marschieren und manchmal auch rennen. Waren wir am Ende unserer Kräfte, wurden wir unter Waffengewalt und Todesdrohungen zum Weitergehen gezwungen.
Wir waren ungefähr zwei Monate unterwegs, meistens zu Fuss. Davon wurden wir etwa zehn Tage als Geiseln gehalten. Da die Bezahlung nicht erfolgt war, wollte sich der Schlepper mit unseren Leben rächen. Mit dem Boot gelangten wir nach Italien. Von dort reisten wir mit dem Zug weiter. Der Schlepper hatte uns für viel Geld gefälschte Ausweise besorgt. Nach kurzer Zeit im Zug folgte eine Zollkontrolle. Wir wurden erwischt und mussten aussteigen. Wir zitterten und weinten.»
Judith Nünlist
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