Portrait von Sibel Arslan, Nationalrätin.(Yoshiko Kusano)
Portrait von Sibel Arslan, Nationalrätin.(Yoshiko Kusano)

Sibel Arslan, Nationalrätin und Juristin.

Bitte erzählen Sie uns Ihre Geschichte mit der Heilsarmee!

Ich bin der Heilsarmee sehr dankbar. 1991 bin ich mit meiner Familie aus der Türkei nach Basel gekommen. Ich war elf Jahre alt und konnte kein Deutsch. Wir lebten in Kleinbasel in einem schönen Quartier. Da viele Migrantinnen und Migranten dort lebten, haben wir viel türkisch geredet und die Durchmischung des Quartiers war leider nicht einfach. Doch dann erfuhr ich, dass es eine Kinderstunde der Heilsarmee gibt.

Eine Kinderstunde?

Ja. Zwei Salutistinnen organisierten sie einmal pro Woche. Ich habe meine beiden Brüder und ein paar Freundinnen mitgenommen. Wir waren etwa zehn Kinder, alle mit Migrationsgeschichte. Es gab immer Kuchen und Tee, wir bastelten, sangen, hörten Geschichten und lernten Deutsch. Ich ging jahrelang dorthin. Diese Nachmittage haben uns Migrantenkindern enorm viel gebracht, ich werde sie nie vergessen. Und diese zwei Frauen von der Heilsarmee öffneten mir die erste Tür in die schweizerische Gesellschaft. Und dafür bin ich ihnen bis heute sehr, sehr dankbar.

Das Angebot der Heilsarmee war ein Integrationsschritt für Sie?

Absolut! Die Heilsarmee hat mein Bild von der Schweiz stark geprägt. Sie zeigte mir eine herzliche, offene und inklusive Schweiz. Sie ermöglichte meine erste Begegnung mit der Schweizer Kultur – und auch mit dem Christentum, das dieses Land prägt. Wir erfuhren zum Beispiel, was Weihnachten bedeutet, und lernten wichtige Werte des Landes kennen. Meine Eltern sind Aleviten und mich hat besonders beeindruckt, dass im Christentum so wie bei den Aleviten auch Kerzen angezündet werden.

Für Ihre Eltern war das kein Problem?

Im Gegenteil: Meine Eltern fanden es grossartig und spannend, dass wir uns so mit unserer neuen Heimat auseinandersetzen konnten. Natürlich gibt es immer wieder negative Schlagzeilen über Kirchen, wegen sexuellem Missbrauch und so. Aber das darf nicht verdrängen, dass christliche Organisationen wie die Heilsarmee auch viel Gutes und sehr wertvolle Arbeit im sozialen Bereich leisten – in der Kinder- oder Jugendarbeit oder für Menschen am Rand der Gesellschaft. Von diesem sozialen Engagement dürften die christlichen Organisationen durchaus mit mehr Selbstbewusstsein erzählen.

Was sagen Sie Leuten, die Vorbehalte gegenüber Glauben und Religion haben?

Meine Begegnungen mit dem Christentum sind sehr positiv konnotiert – vor allem durch die Heilsarmee und die beiden Schwestern. Christliche Werte gehören zu diesem Land. Man muss einen Glauben nicht teilen, aber respektieren. Ich selbst glaube an die humanitären Menschenrechte und an Gleichberechtigung – das ist für mich wie eine Glaubensfrage. Genauso sollte auch der Glaube an etwas Göttliches oder Transzendentes Platz haben – solange er anderen gegenüber offen und respektvoll bleibt. So habe ich die Heilsarmee immer erlebt: wertebasiert, aber nie aufdringlich.

Portrait von Sibel Arslan, Nationalrätin.(Yoshiko Kusano)
Portrait von Sibel Arslan, Nationalrätin.(Yoshiko Kusano)

«Man muss einen Glauben nicht teilen, aber respektieren.»

Sibel Arslan

Infos zur Person

Sibel Arslan (45) ist Juristin und seit 2015 Nationalrätin. Seit 2022 ist sie Vizepräsidentin der Grünen Partei der Schweiz. Arslan wurde 1980 in eine kurdisch-alevitische Familie in der Osttürkei geboren. 1991 kam sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern nach Basel-Stadt, wohin ihr Vater sechs Jahre zuvor geflüchtet war. Arslan studierte Recht an der Universität Basel und bekam 2004 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Im Bundesparlament ist sie Mitglied der aussenpolitischen Kommission, der Rechts- und der Gerichtskommission und sie vertritt die Schweiz in der parlamentarischen Versammlung des Europarats.

Sind Sie der Heilsarmee später wieder begegnet?

Ich war mehrere Jahre lang Berufsbeiständin in Basel-Stadt und habe Männer begleitet, die im Männerheim der Heilsarmee am Rheinufer lebten. Wenn wir eine Wohnung einer Klientin oder eines Klienten räumen mussten, habe ich jeweils die Heilsarmee-Brocki angerufen. Und wenn die Heilsarmee vor Weihnachten ihre Topfkollekte durchführt, spende ich immer gerne.

Welches ist der wichtigste Wert für Sie?

Gleichberechtigung und Chancengleichheit in jeder Hinsicht. Ich weiss, dass es absolute Gleichberechtigung nie geben wird, aber wir müssen uns ihr so weit wie möglich annähern. Für mich gilt der Gedanke der Gleichberechtigung auch für unsere Umwelt: Jeder Baum, jeder Käfer, jedes Lebewesen hat eine Existenzberechtigung, genauso wie wir Menschen.

Sie wurden in der Osttürkei geboren und sind heute Nationalrätin im Bundeshaus. Was kann die Schweiz aus Ihrer Geschichte lernen?

Diese Frage ist der Grund, warum ich meine Geschichte mit der Heilsarmee erzähle: Ich hatte damals als Kind das Gefühl, wirklich abgeholt zu werden – von zwei Frauen, die mir Zeit, Respekt und Vertrauen schenkten. Leider erleben viele Migrantinnen und Migranten das Gegenteil: Sie fühlen sich ausgeschlossen. Genau hier könnte die Schweiz noch mehr tun – Menschen von Anfang an abholen, sie begleiten und stärken. So gelingt die Integration schneller, und wir können das Potenzial dieser Menschen besser nutzen – unabhängig davon, wie lange sie bleiben. Davon profitieren alle: die Migrantin, der Migrant und unsere gesamte Gesellschaft.

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