Gastbeitrag von Renate Grossenbacher, Angehörigenprojekt Heilsarmee | Lesedauer: 4 Min. · 0 Kommentare
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Stellen Sie sich vor: Ihr Partner ist von der Polizei abgeholt worden. Sie haben keine Ahnung, was vorgefallen ist, was für ein Delikt ihm vorgeworfen wird. Es besteht keine Chance, etwas darüber herauszufinden. Ein Besuch wird Ihnen wegen Verdunklungsgefahr verwehrt, und es ist völlig unklar, wie lange dies so bleiben wird. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Wie reagieren Sie? Was sagen Sie Ihrem Kind?
Nach der Inhaftierung eines Elternteils, meistens des Vaters, können Sorgen und der Umstand, von einem Tag auf den anderen für Lebensunterhalt, Haushalt und Kindererziehung alleine zuständig sein zu müssen, sehr schnell zur Überlastung der Mutter führen. Oft wird den Kindern aus Angst verschwiegen, wo sich der Vater befindet. In vielen Fällen bekommen sie zu hören, dass er unerwartet ins Ausland verreisen musste. Die Kinder spüren, dass etwas nicht stimmt, sie fühlen sich abgelehnt und können Fantasievorstellungen entwickeln, die so weit gehen, dass sie sich für die Abwesenheit des Vaters verantwortlich fühlen. Erfährt ein Kind, dass sein Vater im Gefängnis ist, stellt es oft Fragen wie: Was habe ich gemacht, dass er ins Gefängnis muss? Wie geht es ihm? Hat er warm genug, und erhält er genug zu essen? Denkt er an mich, oder hat er mich bereits vergessen?
Verlust von Geborgenheit und Zuwendung
Die Gefängnisarbeit der Heilsarmee bietet seit 2016 im Rahmen des Projekts Angehört Rat und Unterstützung für Angehörige von Inhaftierten (siehe unten). In der ersten Zeit nach dem einschneidenden Ereignis muss der familiäre Alltag häufig neu organisiert werden. Gewohnte Abläufe geraten durcheinander, vereinbarte Regeln verlieren ihre Gültigkeit. Dies bedeutet für die Kinder eine zusätzliche Verunsicherung. Die Mutter, welche durch die Umstände am Limit läuft, steht als Bezugsperson nur noch eingeschränkt zur Verfügung.
Für ein Kind sind solche Situationen, die vom Verlust an Geborgenheit und Zuwendung geprägt sind, nur schwer zu verstehen. Befürchtet die Mutter zudem noch, das gesellschaftliche Ansehen zu verlieren, und wird die Inhaftierung des Vaters zum Tabuthema erklärt, wird die Verarbeitung für ein Kind fast unmöglich. Oft versuchen die Mütter, die Kinder vor Ablehnung und Ausgrenzung zu schützen, und verbieten deshalb, dass über die Verhaftung gesprochen wird. Das Ergebnis ist jedoch, dass sie sich ebenfalls in ein Gefängnis verbannen. Die Verpflichtung, die Situation zu verheimlichen, treibt die Kinder in die Isolation. Um die Abwesenheit des Vaters zu erklären, erfinden sie Geschichten und Lügen, die sie immer weiter von ihren Freunden wegführen.
Fachleute schätzen, dass rund 5000 Kinder in der Schweiz von der Inhaftierung eines Elternteils, meist des Vaters, betroffen sind. Nehmen wir die Kinder dazu, deren Vater die Strafe in der Schweiz absitzt, während die Familien im Ausland leben, so steigt diese Zahl drastisch nach oben.
Beispiele aus dem Beratungsalltag
Vor allem jüngere Kinder wissen oft nicht, aus welchem Grund der Vater in Haft ist. So zum Beispiel Simon (Name geändert), ein 11-jähriger Junge, dessen Vater seit einigen Jahren wegen pädophiler Handlungen im Gefängnis ist. Simon kennt den Grund der Haft nicht, es ist ihm eigentlich auch nicht wichtig. Die Eltern sind geschieden, und die Mutter ist der Auffassung, dass der Vater ihm den Grund erklären soll. Während mehr als sieben Jahren bestand kein Kontakt. Dieses Jahr fand auf Wunsch des Jungen ein erster Besuch in der Strafanstalt statt. Ich begleitete Simon bei dieser Begegnung; seither ruft der Vater Simon einmal wöchentlich an.
«Was ist das Schwierigste für dich, seit dein Vater in Haft ist?», wollten wir von einem anderen jungen Mann wissen. Seine Antwort: «Mein Leben voll und ganz organisieren zu müssen und es allen recht zu machen.» Der Vater, der Papa fehlt als Erzieher, als Vermittler, vielfach als jener, der die Sprache besser spricht als die Mutter. Eine Orientierung und eine Vermittlung von Wissen darüber, wie ein Einstieg ins Berufsleben gelingen kann, sind nicht oder kaum vorhanden. Erlebt ein Jugendlicher in der Person des Berufschullehrers, der Lehrmeisterin ein verlässliches, unterstützendes Gegenüber, wird dieser Mensch oft zu einer wichtigen Identifikationsfigur für ihn.
Regelmässig fährt eine Mutter mit ihren drei Kindern ins Gefängnis. Sie besuchen den Vater fast wöchentlich. Das Besucherzimmer in der Strafanstalt ist jedoch sehr karg eingerichtet und bietet Kindern kaum Spielmöglichkeiten; zudem sind im gleichen Raum oft andere Besucher anwesend, die sich durch die Kinder gestört fühlen. Eine Stunde lang einfach nur dazusitzen, nur leise reden zu dürfen und kaum Beschäftigung zu haben, finden die drei gar nicht cool. So sind gerade die beiden Buben jeweils erleichtert, wenn sie das Gefängnis verlassen und sich wieder frei bewegen können.
Das Recht des Kindes wird oft vernachlässigt
Regelmässige Besuche sind jedoch von grosser Wichtigkeit, wenn eine Resozialisierung gelingen soll. Fachleute des Justiz-vollzugs sind sich einig, dass soziale Kontakte und Besuchsmöglichkeiten für Inhaftierte wesentlich dazu beitragen, die Rückfallgefahr zu verringern. Ein weiteres wichtiges, aber oft vernachlässigtes Thema ist das Recht des Kindes. Viel zu oft wird es nicht eingehalten. Entscheide werden über den Kopf des Kindes hinweg gefällt, ohne dass es selber zu Wort kommen kann. Behörden, so hat man oft das Gefühl, berufen sich auf Regeln, Vorschriften, Vereinbarungen. Das Kindswohl jedoch bleibt aussen vor.
Angehört
Das Projekt Angehört ist ein Teil der Gefängnisarbeit der Heilsarmee und besteht seit 2016. Angehört begleitet und unterstützt Angehörige von Inhaftierten, egal welcher Nationalität und Religionszugehörigkeit. Die Hilfe zeichnet sich aus durch Direktheit, praktische Unterstützung und unbürokratisches Handeln.
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