An der Spitze
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Selbstwirksamkeit: Die Überzeugung, Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können / Bild: pexels-joshua-t

Der Begriff Selbstwirksamkeit wurde in den 1970er-Jahren vom amerikanischen Psychologen Albert Bandura (1) geprägt. Er bezeichnet die Überzeugung einer Person, «zu etwas fähig» zu sein und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können, wie in diesem Blogbeitrag ausführlich beschrieben.

Glaube an Gott versus Glaube an sich selbst?

In den sozialen Institutionen der Heilsarmee unterstützen wir Menschen darin, sich als selbstwirksam zu erleben, sich etwas zuzutrauen, ein gesundes Selbstvertrauen aufzubauen. Wie sieht es aber dann mit dem Gottvertrauen aus? Wenn ich es selbst schaffe, brauche ich Gott gar nicht? Oder nur gerade in den Momenten, wo ich an meine Grenzen stosse?

Diesen Fragen gehen wir im Folgenden aus verschiedenen Blickwinkeln nach. So viel schon mal vorneweg: Wenn die Grundlage stimmt, ist es gesund und förderlich, «selbst wirksam», also aktiv und handlungsfähig, zu sein und zu bleiben. Auch in unserem Glaubensleben!

«Selbst wirksam» sein

Wenn wir den Begriff in seinem eigentlichen Wortsinn – «selbst wirksam» sein – betrachten, besteht kein Widerspruch zu dem, wozu auch Gott uns ermutigt. Von den ersten bis zu den letzten Seiten fordert die Bibel uns auf, «wirksam» zu sein. Gott hat uns allen Begabungen und Fähigkeiten anvertraut. Er möchte, dass wir diese einsetzen und damit etwas «bewirken» in unserem Leben, unser Umfeld positiv prägen. Gott traut uns viel zu – trauen wir uns selbst also auch etwas zu!

«Das schaffe ich – mit Gottes Hilfe!»

Manchmal stossen wir in unserem Leben allerdings an Grenzen, wo wir merken, dass wir die Situation nicht «im Griff» haben. Das kann durchaus heilsam und nützlich sein, zeigt es uns doch die Abhängigkeit von Gott auf.
Gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, dass wir trotzdem handlungsfähig bleiben. Das Gegenteil von Selbstwirksamkeit ist Hilflosigkeit. Wenn wir uns als hilflos empfinden, hören wir auf, unser Leben aktiv zu gestalten. Es ist daher entscheidend, dass wir unser Vertrauen bewusst auf Gott setzen. Vielleicht bedeutet das, dass wir in gewissen Situationen «nur noch» beten können – aber auch das ist etwas Aktives! Es hilft, wenn wir die Überzeugung haben: «Das schaffe ich – mit Gottes Hilfe!» Frei nach Psalm 18,30:

Denn mit dir kann ich Wälle erstürmen und mit meinem Gott über Mauern springen.

Psalm 18,30

Lesen Sie hier, welch unschätzbare Ressource der Glaube in herausfordernden Situationen darstellen kann und wie wichtig es gleichzeitig ist, selbstwirksam zu sein – zum einen aus der Sicht eines ukrainischen Pastorenehepaars aus dem Kriegsgebiet, zum andern aus der Perspektive einer Heilsarmee-Mitarbeiterin, die sich seit 25 Jahren für das Wohl von Menschen im Rotlichtmilieu von Zürich einsetzt.

Die richtige Quelle ist entscheidend

Das Pastorenehepaar Rostyslav Kamniev und Iryna Hrystyanovych war in der Ukraine für mehrere Gemeinden verantwortlich. Nach Beginn des Krieges mussten sie ihr Heimatland verlassen. Durch eine Kette von «Zufällen» sind sie vor einem Jahr in der Schweiz gelandet.

Iryna und ihr Mann Rostyslav in ihrer Heimat
Iryna und ihr Mann Rostyslav in ihrer Heimat

Das Ehepaar Iryna Hrystyanovych und Rostyslav Kamniev vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine / Bild: zVg

Iryna an einem Gottesdienst für Ukrainer:innen
Iryna an einem Gottesdienst für Ukrainer:innen

Iryna Hrystyanovych bei einem Gottesdienst in der Heilsarmee mit ukrainischen Geflüchteten / Bild: zVg

Obwohl Rostyslav und Iryna seit dem Ausbruch des Krieges selbst Schlimmes durchgemacht haben, begannen sie gleich nach ihrer Ankunft, ihre Landsleute zu unterstützen. Die Heilsarmee Zürich Oberland hörte davon, stellte ihnen einen Saal zur Verfügung und half mit Lebensmitteln. Das Pastorenpaar schloss sich der Heilsarmee an und dient heute in Uster, Pfäffikon und Wetzikon zahlreichen ukrainischen Geflüchteten.

Auf der Suche nach Verlässlichkeit

«Die Menschen, mit denen wir zu tun haben, sind alle durch Krieg gegangen, haben sehr viel Schlimmes erlebt», erzählen die beiden. «Wegen dieser Not haben sich die Wertesysteme der Menschen verändert. Sie haben verstanden, dass das, worauf sie sich früher stützen konnten, nicht stabil ist. Sie suchen etwas, worauf sie sich mit ihrem Herzen verlassen können. Wir haben gemerkt, dass nur das Wort Gottes ihnen echte Hoffnung geben, sie stabilisieren, ihnen neue Möglichkeiten zeigen kann».
In Uster gibt es zweimal pro Woche eine Lebensmittelverteilung. Zur selben Zeit hat ein Café geöffnet, wo die Leute einen Kaffee oder ein Sandwich bekommen und sich aufhalten können. «Während sie am Warten sind, kommen wir, sprechen mit ihnen über Jesus – und sie wollen einfach nicht mehr gehen», erzählen Rostyslav und Iryna weiter. «Es entwickelten sich daraus auch tiefere Beziehungen, weil wir jeden Sonntag Gottesdienste anbieten. Die Menschen hören das Wort Gottes, sie spüren, dass Gott sie heilt und akzeptiert – sie nehmen nicht nur Lebensmittel mit.»

Das tun, was wir können – und den Rest Gott überlassen

Rostyslav ist überzeugt und weiss aus eigener Erfahrung: «Der Glaube an unsere Selbstwirksamkeit muss von der richtigen Quelle ausgehen. Wenn die Quelle unserer Selbstsicherheit nicht Gott ist, dann erliegen wir einer Selbsttäuschung. Die Lebensumstände können sich so entwickeln, dass das, worauf du früher gehofft hast, worauf du dich gestützt hast, nicht mehr helfen kann.» Iryna ergänzt: «Ich denke, wir sollen uns nicht vor Angst irgendwo verstecken, sondern einfach das machen, was wir können, was wir gelernt haben. Den Rest können wir Gott überlassen.»
«Wenn deine Selbstwirksamkeit die richtige Quelle hat, werden dich die schwierigen Umstände nicht stoppen können», bekräftigt Rostyslav nochmals. «Die Schwierigkeiten zerstören dich dann nicht, sie bringen dich nur noch näher zu Gott. Wir haben ganz viele Zeugnisse darüber, wie Gott geholfen hat in ganz schweren Kämpfen. Wenn du nichts machen kannst und ‹nur› betest, dass Gott dich beschützt.»

«Wenn deine Selbstwirksamkeit die richtige Quelle hat, werden dich die schwierigen Umstände nicht stoppen können.»

Rostyslav Kamniev

Iryna sagt aber auch: «Das war uns auch nicht so bewusst, solange wir ein normales, beschütztes Leben geführt haben. Vielleicht bist du dann eher so, dass du dich auf deine eigenen Kräfte stützt, auf deinen Verstand. Aber wenn dann schwierige Umstände kommen, verstehst du, wie sehr du von Gott abhängig bist.»
Iryna und Rostyslav begleiten viele ihrer Landsleute seelsorgerlich. Das Pastorenpaar unterstützt sie darin, ihr Leben in der Schweiz aktiv zu gestalten, das zu tun, was ihnen möglich ist – eben selbstwirksam zu sein oder wieder zu werden. Vor allem aber auch darin, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen. Dies ist ein ständiger Prozess, denn es kommen immer wieder schreckliche Nachrichten aus der Ukraine, und das triggert die Betroffenen immer wieder.

Gemeinsam unterwegs

Gottvertrauen und Selbstvertrauen im Rotlichtmilieu

Leuchtende Fenster an der Häringstrasse in Zürich
Leuchtende Fenster an der Häringstrasse in Zürich

Menschen, die im Sexgewerbe tätig sind, werden auch in unserer «modernen» Gesellschaft eher kritisch oder gar negativ betrachtet. Sie leben in einer Art Parallelwelt, meist unter prekären Umständen, und haben dadurch häufig ein schlechtes Selbstwertgefühl. Die Mitarbeitenden von Rahab unterstützen Betroffene darin, ihre Ressourcen zu entdecken und Perspektiven zu entwickeln. Oft spielt der Glaube dabei eine wichtige Rolle.

Seit einem Vierteljahrhundert ist Cornelia Zürrer Ritter als Rahab-Mitarbeiterin der Heilsarmee im Rotlichtmilieu von Zürich unterwegs. Unter ihrer Leitung hat sich die Arbeit zu einer weit herum anerkannten Fachstelle entwickelt. Zum einen zeichnet sie ihre fachliche Kompetenz und Professionalität aus, zum anderen ihr spürbares Anliegen, dass die Frauen, Männer und Transmenschen, mit denen sie täglich (oder oft auch nächtlich) in Kontakt steht, ein würdiges Leben führen können.

«Ich kann das»

Bei ihrer Arbeit ist es wichtig, dass sie ressourcenorientiert vorgeht. «Das ist manchmal einfacher, manchmal schwieriger», meint Cornelia Zürrer Ritter. «Aber egal, worum es geht – wir wenden das Prinzip an, das schon Willim Booth hatte: ‹Tu nichts für die Leute, das sie selbst tun können›. Wenn beispielsweise eine Frau jedes Jahr mit einem Sack voller Unterlagen für ihre Steuererklärung kommt, sage ich nach dem dritten Mal: ‹Schau, jetzt haben wir das zweimal für dich gemacht. Komm, wir machen das jetzt MIT dir›. Oder auch beim Telefonieren: Häufig trauen sie es sich nicht zu, irgendwo anzurufen. Und ich sage ihnen dann: ‹Doch, die verstehen dich. Ich sitze daneben, aber du rufst an. Wenn sie dich wirklich nicht verstehen, kann ich übernehmen›.»
Anders ausgedrückt: Sie motiviert die Hilfesuchenden zur Selbstwirksamkeit. Zum Beispiel durch die Teilnahme an Kursen bei einer Reinigungsfirma. «Das sind nur drei Tage, aber am Schluss haben sie ein Zertifikat. Einigen konnten wir dadurch auch schon ein Praktikum vermitteln. Dort konnten sie erste Erfahrungen in der Arbeitswelt sammeln und merken, ‹Ich kann das›. Für ihr Selbstvertrauen ist das sehr wichtig.»

Conny Zürrer – Rahab Zürich
Conny Zürrer – Rahab Zürich

Seit einem Vierteljahrhundert ist Cornelia Zürrer Ritter als Rahab-Mitarbeiterin der Heilsarmee im Rotlichtmilieu von Zürich unterwegs. / Bild: zVg

Das Büro von Rahab Zürich
Das Büro von Rahab Zürich

Im Beratungsbüro von Rahab Zürich finden Hilfesuchende einen vertraulichen, sicheren Rahmen. / Bild: Rahab Zürich

Rahab verteilt Hygieneprodukte und Lebensmittel.
Rahab verteilt Hygieneprodukte und Lebensmittel.

Eine Rahab-Mitarbeiterin nachts unterwegs im Rotlichtmilieu von Zürich. / Bild: Rahab Zürich

Der Glaube als Ressource

«Wir versuchen grundsätzlich immer, die Klientinnen in ihren Ressourcen zu stärken», erzählt die Rahab-Leiterin von Zürich weiter. «Und ihnen zu helfen, neue Perspektiven zu entwickeln, anders über sich zu denken.»
Dabei spielt der Glaube immer wieder eine wichtige Rolle. Meist wirkt er unterstützend, manchmal aber auch hinderlich – je nachdem, welches Gottesbild jemand mitbringt. «Kulturelle und religiöse Prägungen können dazu führen, dass Menschen aus Scham ein Doppelleben führen, und ihren Familien nicht sagen, welchen Preis sie hier zahlen, um jeden Monat Geld heimschicken zu können. Das finde ich traurig. Wir versuchen immer, ihnen zu vermitteln: Gott liebt dich bedingungslos, so, wie du bist.»
Und tatsächlich ist es in vielen Fällen genau dieses Wissen um die Liebe Gottes, welche die Frauen das harte Prostitutionsmilieu überhaupt ertragen lässt. «Bei manchen Klientinnen liegt zum Beispiel im Salon eine Bibel», berichtet Cornelia Zürrer Ritter. «Einige sagen, ohne Gott würden sie das alles nicht aushalten. Und wenn ich dann nachfrage, was sie lesen, dann sind es fast immer die Psalmen – weil dort alles vorkommt. Sie dürfen alles sagen, sie dürfen alles bitten, da darf alles rauskommen, wie bei einer ‹Chropfleerete›. Und trotzdem ist da immer die Hoffnung: Gott ist da, er hilft mir und er hört mich.»

Quellen

Wie wichtig Glaube und Selbstwirksamkeit – sowie vertrauensvolle Beziehungen – sein können, zeigt auch die Geschichte von Philipp, der mit 17 Jahren seine Mutter verlor.

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