Die erste Geschichte handelt von einem jungen ukrainischen Pärchen. Der belagerte Donbas und das konstant attackierte Odessa waren einst die Heimat von Anastasia und ihrem Ehemann Arkadii, bevor sie aus der Ukraine flüchteten und sich im September 2022 in Budapest niederliessen.
Anastasia & Arkadii: Wiedererlangung von Stabilität und Kraft
Zum Aufbruch gezwungen wurden die beiden, nachdem Arkadii – Ingenieur von Beruf – seine Stelle verlor und sie dadurch nicht mehr für ihre Wohnungsmiete aufkommen konnten. Auf der Suche nach einer Lösung ihrer finanziellen Notlage kam ihnen die “Hungarian Interchurch Aid” zur Hilfe und bot ihnen eine vorübergehende Bleibe, etwas ausserhalb von Budapest, in der Flüchtlingsunterkunft der Heilsarmee Ungarn an. Ihr Ziel ist es, während des Aufenthalts Geld zu sparen, fleissig zu studieren und einen guten Job zu finden, der es ihnen erlaubt, eine eigene Wohnung zu mieten.
Wenn auch neu gewonnene Freunde nicht mehr helfen können
Die Gruppe von Menschen, mit denen sie sich befreundeten, bot bei vielen Dingen praktische Unterstützung. Viele von ihnen stammen aus der ehemaligen ‘Gemeinschaft unabhängiger Staaten’. Dennoch geriet das Paar in eine unvorhergesehene Situation, die auch gute Freunde nicht lösen können: «Von aussen betrachtet war alles in Ordnung, bis ich wieder meine Anstellung verlor und so die finanzielle Basis für uns beide erneut wegbrach. Wieder mussten wir uns um neue Optionen und Arbeit kümmern», so Arkadii.
Die beiden sind nun auf einem guten Weg. Wie erwartet, hat das Umfeld einen positiven Effekt auf ihre Gesamtsituation. Arkadii hatte unterdessen vielversprechende Jobinterviews, während Anastasia putzen geht, um Essen auf den Tisch zu bringen. Beide nehmen Englischunterricht und gehen in die Gruppentherapie, wo sie wieder Kraft schöpfen.
«Psychische Kraft und stilsicheres Englisch sind essenziell, um eine Stelle zu finden. Hier können wir uns auf all das fokussieren – vielen Dank für die Hilfe, die wir hier bekommen, um wieder auf eigenen Beinen stehen zu können», sagt Arkadii mit einem hoffnungsvollen Lächeln.
Viktoria: Durch die Sprache in Berührung mit Einheimischen
Viktoria floh bereits im März 2022 aus der Ukraine, da Odessa unter konstantem Beschuss stand und für sie und ihre Kinder kein sicherer Ort mehr war. In der Ferne fand sie viel mehr als einen friedlichen Ort: Ein Platz, den sie nun Zuhause nennt.
Dass sich Viktoria so wohlfühlt, ist nicht nur ihrer guten Wohnung oder den neu gefundenen Freunden zuzuschreiben. Sie hat als 34-jährige Musikerin einen grossen Aufwand betrieben, um die schwierige Sprache Ungarisch zu lernen. Ein wertvoller Schlüssel, der ihr den Zugang zu den Mitmenschen ermöglicht. In ihren Bemühungen wird sie von der Heilsarmee Ungarn und der HIA unterstützt.
«Wir kamen mit der Familie hierher. Ich war damals noch schwanger und musste die Ukraine verlassen», erklärt sie. «Wir überlegten nicht lange, wohin wir flüchten wollten, da ich eine Freundin in Ungarn hatte. Ich hoffte, bei ihr vorübergehend Schutz zu finden und dass sie mir danach bei der Suche nach einer Wohnung behilflich sein könnte. Und so war es zum Glück.» Ihre Freundin hatte gerade ein leerstehendes Appartement, welches sich von der Übergangslösung zur mittlerweile zweijährigen Unterkunft gewandelt hat. «Wir sind sehr dankbar für ihre Grosszügigkeit, natürlich bezahlen wir auch Miete. Für jemanden wie mich mit Kleinkindern ist Stabilität das wichtigste. Zudem ist es ein toller Ort mit dem Bikás Park, viel Grünfläche und einer Metrostation gleich um die Ecke.»
Eine Heimat zu finden bedeutet auch, den Ort, die Kultur und die Sprache kennenzulernen. «Eigentlich wusste ich nicht viel über Ungarn, bevor ich hierherkam. Aber jetzt lerne ich Ungarisch» – sie wechselt im nächsten Satz ins Ungarische: «Én már Budapesten élek, itt nagyon fontos a magyar nyelv ismerete [Jetzt lebe ich in Ungarn, die Sprache hier zu sprechen ist sehr wichtig]», sagt sie und lacht. «Wenn ich in den Kindergarten, zum Einkaufen oder einfach nur auf den Spielplatz gehe, brauche ich überall Ungarisch. Aber es geht nicht nur um die Kommunikation: Meine jüngste Tochter wird drei Jahre alt und geht bald in den Kindergarten. Spätestens dann möchte ich wieder anfangen zu arbeiten.»
Sie lernt die Sprache seit Dezember 2022, als die ersten Kurse im Unterstützungszentrum für ukrainische Flüchtlinge, einer Einrichtung des HIA, begonnen haben. Jetzt hat sie das Niveau B1 erreicht, was eine aussergewöhnliche Leistung ist, wenn man bedenkt, wie fremd Ungarisch für eine Sprecherin indoeuropäischer Sprachen, wie sie, ist. Viktoria zufolge ist die Kultur an sich jedoch gar nicht so anders. Erst als sie anfing, die Menschen zu verstehen, fielen ihr andere Dinge auf.
«Alle Ungarn scheinen wirklich Babys zu mögen. Sie kennen meine Kinder nicht, aber sie lächeln sie an, berühren sie und fangen gerne ein Gespräch an – ich habe zuerst nicht wirklich verstanden, worüber sie reden. Nachdem ich einige Zeit damit verbracht hatte, Ungarisch zu lernen, stellte sich heraus, dass sie über ihre Schuhe, ihre kleinen Gesichter und darüber sprachen, wie süss sie sind. Das ist in der Ukraine nicht sehr üblich!»
«Eigentlich wusste ich nicht viel über Ungarn, bevor ich hierher kam. Aber jetzt lerne ich Ungarisch»
Es gibt aber etwas, in dem sie mit den Ungarn übereinstimmt: Als Pianistin und Absolventin des renommierten Nationalen Konservatoriums von Odessa ist die Musik ein Teil ihres Lebens, den sie gerne mit ihrer Liebe zu Kindern verbindet. «Schon während meines Studiums habe ich mit Kindern gearbeitet», erklärt sie. Die Kleinen mit Instrumenten vertraut zu machen und ihnen die Welt der Musik zu eröffnen, ist eine Aufgabe, die ihr sehr am Herzen liegt. «Wir haben Lieder gespielt, getanzt und gesungen.» Als sie schwanger nach Ungarn kam, arbeitete sie als Freiwillige in einem Gemeinschaftsraum der Hungarian Interchurch Aid, der im Grunde ein Kindergarten für ukrainische Kinder ist. «Ich bin Pianistin», sagt sie auf Ungarisch, «und die Kinder liebten das Klavier!»
Obwohl sie hier ein Zuhause gefunden hat, ist ihr noch nicht klar, wo sie letztendlich landen wird. «Das hängt von vielen Dingen ab. In der Ukraine herrscht Krieg, ich kann nicht sagen, was in einem Jahr passieren wird, ja, es ist schwer zu sagen, was morgen passiert. Mir gefällt es hier, aber natürlich sind viele Familienmitglieder und Freunde in der Ukraine. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird.»
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Gino Brenni
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