Artikel teilen
Warum bleibt jemand obdachlos?
Forscher der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) haben zusammen mit Prof. Dr. Jörg Dittmann die erste schweizweite Studie zum Thema Obdachlosigkeit in der Schweiz durchgeführt. Erste Resultate haben wir bereits in unserem Bericht vom 15. November 2021 veröffentlicht – Draussen zu Hause – die Obdachlosigkeit in der Schweiz! Inzwischen liegen die definitiven Resultate dieser Studie vor. Dazu wollten wir von Prof. Dr. Jörg Dittmann anhand von uns bekannten Einzelschicksalen wissen, wie diese Menschen obdachlos geworden sind und vor allem, warum sie ohne Obdach bleiben.
Das sagt die Forschung zu Einzelschicksalen von Obdachlosigkeit
Diese vier Menschen wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Heilsarmee im Sommer 2021 interviewt. Für diesen Bericht haben wir ihre Lebensgeschichte nur stichwortartig festgehalten. Im Fokus steht hier die Antwort der Wissenschaft auf ihre beschriebene Situation.
Das sagt die Forschung:
Christines ablehnende Haltung gegenüber der Sozialhilfe ist kein Einzelfall. Zu den Leistungen der Sozialhilfe gehört zwar, eine geeignete Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Jedoch beziehen viele armutsbetroffene Menschen keine Sozialhilfe. Nach den Ergebnissen der von der Hochschule Soziale Arbeit FHNW durchgeführten schweizerischer Nationalfonds-Studie zur Obdachlosigkeit in acht der grössten Schweizer Städte waren 91 Prozent der Personen, die draussen übernachteten und 81 Prozent der Menschen, die in einer Notschlafstelle unterkamen, nicht bei der Sozialhilfe gemeldet. Nicht bei der Sozialhilfe angemeldet zu sein, kann viele Gründe haben: Menschen verzichten trotz Notlage, die Sozialhilfe aufzusuchen, da ihnen die Anspruchsberechtigung fehlt. Sie besitzen z.B. keine gültigen Aufenthaltspapiere. Die Fachdiskussion weist auf das Misstrauen der Obdachlosen hin und ihre negativen Erfahrungen gegenüber staatlichen Behörden. Auch Scham, vom Staat Geld zu erhalten oder die Angst, sich (weiter) zu verschulden oder bestehende Schulden zurückzahlen zu müssen, gehören zu den wichtigsten Gründen für die Nichtinanspruchnahme der Sozialhilfe.
Das sagt die Forschung:
Wenn finanzielle Schwierigkeiten gross sind, Erwerbsarbeit fehlt und wenige Möglichkeiten bestehen, bei Verwandten oder Freundinnen und Freunden unterzukommen, gestaltet sich die Suche nach einer Wohnung selbst für Schweizerinnen und Schweizer, die aus dem Ausland zurückkehren, als schwierig. Das Beispiel von Francine weist darauf hin, dass der Bezug einer Notschlafstelle nicht selbstverständlich möglich ist.
Je nach Region unterscheiden sich die Notunterkünfte sowohl hinsichtlich ihrer Zugangsvoraussetzungen (z.B.: Preis für die Übernachtung, bürokratischer Aufwand) und ihrer Auslastung. Die von der Hochschule Soziale Arbeit FHNW durchgeführte SNF-Studie zur Obdachlosigkeit kommt zum Ergebnis, dass die staatlichen wie auch nicht staatlichen Notschlafstellen in Genf und Lausanne niederschwelliger aber dafür ausgelasteter sind als z.B. in Basel, St. Gallen und Luzern. Der Fall von Francine regt an darüber nachzudenken, ob Notschlafstellen gendersensibel ausgestaltet sind. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit durch die Corona-Pandemie Unterkünfte knapp wurden und andere Übernachtungen z.B. Hotels und Pensionen organisiert werden konnten.
Das sagt die Forschung:
Der nationale wie auch internationale Forschungsstand weist seit längerem auf die Wechselwirkungen zwischen Sucht, psychischer Erkrankung und Obdachlosigkeit hin. Wobei Suchtabhängigkeit und psychische Erkrankungen sowohl eine Ursache als auch eine Folge der Obdachlosigkeit darstellen können. Die aus der Suchtabhängigkeit hervorgehenden körperlichen und psychischen Probleme- können eine Aufgabe der Wohnung oder eine Verfestigung der Obdachlosigkeit erklären.
Ebenso stellt das Leben auf der Gasse in vielerlei Hinsicht eine physische und psychische Belastung dar. Vereinsamung, Furcht vor rechtlichen Sanktionen aufgrund des Kaufs oder Konsums von Drogen oder die mit der Suchtabhängigkeit in Zusammenhang stehende sogenannte Beschaffungskriminalität und soziale Marginalisierung sowie Stigmatisierung werden als weitere Folgen dieser schwierigen Lebensumstände genannt.
Das sagt die Forschung:
Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen zieht es viele Menschen in die Schweiz. Finden sie dort, wie im Fall von Andrey, keine Beschäftigung, verschlechtert sich nicht nur die finanzielle Situation: Ohne Erwerbsarbeit erschwert sich für Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz die Möglichkeit, den Aufenthalt verlängert zu bekommen. In der von der Hochschule Soziale Arbeit FHNW durchgeführten SNF-Studie zur Obdachlosigkeit waren 73 Prozent aller obdachlosen Menschen mit nicht-schweizerischer Staatsangehörigkeit ohne gültige Aufenthaltspapiere.
Was macht die Heilsarmee für Obdachlose?
An verschiedenen Standorten in der Schweiz leistet die Heilsarmee Hilfe für obdachlose Menschen. Das Ziel ist immer, die Menschen von der Strasse zu holen und die bestmögliche, schrittweise Normalisierung einzuleiten. Ein Leben auf der Strasse raubt den Betroffenen die Hoffnung und Würde, oftmals auch die Selbstachtung. Mit sozialer Wärme und praktischen Angeboten versuchen wir diesen Menschen den Alltag zu erleichtern.
Judith Nünlist
Artikel teilen
This site is protected by reCAPTCHA and the Google Privacy Policy and Terms of Service apply.