Gino Brenni · Lesedauer: 4 Minuten · 0 Kommentare
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Widmer: Als Christen können wir eigentlich nicht anders, als höchst motiviert zu sein, zu klingeln. In der Bibel steht: «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.» Die Bibel ist voll von Gemeinschaft, wir lesen in all ihren Büchern von Beziehungen die funktioniert haben und solchen, die gescheitert sind. Jesus selbst sagte ja nicht, «jetzt hören wir auf mit diesem Gesellschaftsgedöhns und machen es alleine.» Nein, er suchte sich zwölf Jünger mit denen er sich stritt und die mit ihm in der Gemeinschaft wuchsen. Und dann die Gemeindegründung: Wieder zusammen! Für mich als Christ heisst das, ein Mensch kann nur funktionieren in der Beziehung. Das ist die diakonische Seite. Die evangelische Seite sagt uns, ein Mensch kann nur funktionieren, wenn er in dieser Gottesbeziehung lebt. Wie sehen Sie das Thema Seelsorge und Einsamkeit? Welche Rolle spielt der Glaube bei der Arbeit mit einsamen Menschen?
Ich würde den Seelsorgern sagen, es gibt verschiedene Dimensionen von Einsamkeit. Sobald man sich in das Thema vertieft, beginnt man in Kategorien zu denken. Es gibt Menschen, die haben einfach zu wenig soziale Kontakte, das könnte man «Kontakteinsamkeit» nennen. Daneben gibt es aber eine Einsamkeits-Dimension, die letztlich für die Seelsorger interessanter ist, weil man ihr nicht unbedingt mit einem besseren sozialen Netz beizukommen vermag. In dieser Dimension gelangt man zur tiefen Seele eines Menschen, die häufig mit einer frühen, also kindlichen, Verlassenheitserfahrung in Verbindung steht. In der Therapie und Seelsorge spricht man da vom «verlassenen inneren Kind», welche eine ganz andere Betreuung erfordert, als bei einem Menschen, der einfach in Isolation geraten ist durch beruflichen Stress, innerlich jedoch gesund ist. Welche Betreuungsform ist das?
Ein vereinsamtes, inneres Kind kann durch Gemeinschaft nicht getröstet werden. Da kommt die Dimension der Realität von Gott ins Spiel: Gelingt es uns, diesem verlassenen Anteil im Innersten, Jesus zur Seite zu stellen, der dieses Kind tröstet und ihm begegnet. Kann ein solches «inneres verlassenes Kind» zum Glauben kommen? Da gibt es sehr spannende Seelsorger-Konzepte. Was heisst das für die Seelsorger?
Die Seelsorger sollten sich der unterschiedlichen Dimensionen und Ebenen bewusstwerden und sehen, was man durch Reintegration – zum Beispiel in einen Hauskreis, oder Gemeinde – auffangen, und was ist eine ganz andere Dimension, wo nur Gott durch seinen Sohn wirken kann. Und was kann jede Gemeinde daraus ableiten?
Es könnte sich für die Seelsorgearbeit einer Gemeinde auch lohnen, damit zu beginnen, die Gemeindeglieder darin zu schulen, was Einsamkeit mit einem Menschen anstellt. Vereinsamende Menschen werden schnell einmal irgendwie komisch im sozialen Verhalten, kritisch, nörgelnd. Man lädt sie ein – sie kommen nicht. Du lädst sie ein zweites Mal ein – sie finden wieder eine Ausrede, womit es dir dann verleidet. Dort kann die Gemeinde schulen und sagen: das ist normal. Trotzdem sehnt sich dieser Mensch nach Beziehung! Die Gemeindeglieder sollen wissen, wenn dieser Mensch nicht noch komischer werden soll, braucht er die Schwingung und Resonanz eines gemeinschaftlichen Miteinanders, sonst erstarrt er noch mehr. Diese Schulung braucht einen langen Atem, da bei solchen Personen gewisse soziale Kompetenzen verkümmert sind. Darin finde ich die Heilsarmee sehr stark mit ihren sozialdiakonischen Anliegen, Menschen auch wirklich zu integrieren. Auf nicht-Gläubige könne es so wirken, als würdest du zwischen Psychologie bzw. Psychiatrie und Seelsorge unterscheiden. Kann man das überhaupt scharf voneinander trennen?
Sie meinen die Arbeit und Seelsorge? Die Seelsorge und die geschulte, psychologische Wissenschaft dahinter, die eher behauptet, «den ganzen Glauben braucht es nicht, ein guter Psychiater bringt das auch hin, wenn er Atheist ist.»
(überlegt) Das glaube ich eher nicht. Jede Seelsorgeausbildung beinhaltet heute Erkenntnisse aus der Psychologie. Die Sprache des «inneren Kindes» zum Beispiel, die hilft enorm, um gewisse Phänomene zu verstehen: Wenn jemand plötzlich ganz schräg drauf ist und du denkst, das ist gar nicht mehr derselbe Mensch, sondern viel eher ein Schatten seiner selbst. Wenn jedoch die Psychiatrie in sich selber den Kreislauf schliesst, und von einem humanistischen Ansatz her sagt, «jeder Mensch hat in sich die Heilungskräfte, um gesund zu werden, sie brauchen nur freigelegt zu werden,» legt sie damit einem Menschen einen enormen Druck auf. Wenn man hingegen sagen kann «Hör mal, Jesus, Gott kommt von aussen zu dir, in dich und stärkt dich, baut dich auf, verändert dich!», öffnet das etwas im Gegenüber. Die Realität des Menschseins im Hier und Jetzt ist nicht die letzte in einer solchen Betrachtungsweise. Sie bietet eine Perspektive ins Jenseits und damit Hoffnung und eine andere Sicht aufs Leben. Gott sucht durch Jesus eine Beziehung mit uns. Für Seelsorger ist es manchmal schwierig, für Einsame zu beten und zu merken, im Moment kommen die Gebete nicht durch. Aber der Zuspruch hilft eben trotzdem, zu sagen, «ich bete für dich, dass das wieder abebbt und anders wird und ich weiss, dass Gott mit dir in einer Beziehung ist.»
Kirchgemeinden sollten ihre Gemeindeglieder darin schulen, was Einsamkeit mit Menschen macht.
Als Seelsorger schwingst du selber. In der Einsamkeit reden wir immer wieder davon, dass Menschen erstarren, oder sie werden resonanzfähig (nach Hartmut Rosa). Haben wir selber diese Resonanz in uns, diese Schwingung, die sich auf das Gegenüber übertragen kann? Was raten Sie Seelsorgern, die diese Schwingung selber nicht mehr so haben, vielleicht sogar das Gefühl haben, es bringt alles nichts? Hier wäre wahrscheinlich schon Selbstfürsorge angezeigt. Längst nicht alles ist mit Erfolg gekrönt. Da muss man sich als Seelsorger selbst wieder mehr rausnehmen. Die Bibel lesen. Es ist alles nichts neues, schon in der Bibel lief alles drunter und drüber. Dann kommt «das Aber des Glaubens», das wir in den Psalmen lesen: Es war schlimm, aber «…der Herr hilft mir aus», usw. Man muss das als Seelsorger schon auch positiv für sich durchexerzieren können, z. B. indem man sich selbst in die positive Einsamkeit zurückzieht und zu diesem «geistlichen Aber» zurückfindet. Wie stark muss man als Seelsorger loslassen und einen Menschen Gott überlassen können, da nur er den Plan mit ihm kennt? Schliesslich sind im Gegenzug Seelsorger ja auch die Werkzeuge von Gott?
Ja das ist ein Spannungsverhältnis… …man könnte es sich als Seelsorger ja auch einfach machen, indem man es allein Gott übergibt, was mit einem Menschen passiert.
Ich glaube, «Loslassen» und «einen Menschen nicht aufgeben» sind ein Geschwisterpaar. Es gibt immer wieder Situationen, wo etwas noch nicht reif und ein Mensch noch unfähig ist, einen nächsten Schritt zu tun.Als Seelsorger kann man loslassen und sich dort zurückzunehmen im Wissen «ich bin nicht Jesus, momentan braucht es noch andere Wirkungskanäle, als den ‘Jesus durch mich’.» Das heisst ja nicht, dass man die Person aufgibt oder die Beziehung abbricht, sondern sie loslässt in einer Gott zugewandten Art. Es heisst, dass man mit den jetzigen Mitteln gerade nicht weiterkommt. Aber man betet für die Person und vertraut sie Gott an und wartet, bis wieder etwas daraus werden kann. An dieser Stelle muss sich ein säkularer Therapeut eingestehen, dass er an einem Patienten Geld verdient und trotzdem keinen Schritt weiterkommt. Er oder sie müsste die Therapie folglich abbrechen. Wo hat Ihnen diese Gewissheit des «…aber Gott, der Herr» praktisch geholfen?
In der Suchttherapie war das der Schlüssel, um weitermachen zu können. Wie oft hatte ich einen Menschen, der wieder einmal abgestürzt ist. Dann waren die wieder weg und unerreichbar. Die habe ich «durchgebetet» und irgendwann tauchten sie wieder auf. Halleluja! Therapieversuch Nr. 3! Das ist genau der Unterschied zum Therapeuten, der nicht weitermachen will, weil er merkt, dass es nicht vorwärts geht. Wer einem Einsamen sagen kann, die Beziehung sei damit nicht beendet, sondern er bleibe da und betet, kann der Person ja genau das geben, was sie braucht!
Ja, das Wissen, dass diese Person noch auf eine andere Art weitergetragen wird. Im tiefsten Innern ist jeder Mensch auf Beziehung ausgelegt. Es kann mal Ausnahmen geben, Einsiedler, die nichts und niemanden brauchen. Aber selbst der Einsiedler pflegt ja dann eine Beziehung zur Schöpfung oder zu Gott. Das ist ein urgeschaffenes Daseinsbedürfnis. Und wer könnte hier nicht am besten Helfen, als jene, die nicht aufs Finanzielle achten müssen sondern sich verschenken können? Welche Rolle spielt also die persönliche Motivation? Sind Psychiater und Seelsorger in dieser Hinsicht vergleichbar? Sollte bei der Arbeit mit Einsamkeit wieder mehr das Geistige berücksichtigt werden, anstatt das wissenschaftlich-Schulmedizinische?
Die geistige Dimension ist die Wesentlichste. Die sollte man nie ausschliessen. Die Wissenschaft hat diese Dimension häufig nicht mehr, obschon auch in der Psychiatrie immer mehr Stimmen laut werden, die geistigen Ressourcen eines Menschen zu nutzen. Andererseits, wenn man nur die Seelsorge hat, die gewisse innere Vorgänge nicht versteht, kann man auch auf einen Irrweg kommen. Wenn man beginnt, Dinge frei zu beten, die man damit schlicht nicht heilt, weil das Problem woanders liegt. Die Ergänzung und Verbindung von beidem macht’s aus. Ich möchte sicher nirgendwo Patient sein, wo die geistliche Ebene oder die Hoffnung auf einen übermenschlichen Kreislauf fehlt. Es als Psychiater ganz alleine zu schaffen, empfinde ich als sehr hohen Anspruch. Möchten Sie abschliessend noch etwas loswerden?
Der Aspekt, was die Gemeinde gegen Einsamkeit tun kann, ist mir sehr wichtig. Also, dass eine Gemeinde seelsorgerlich unterwegs ist. Denn man ist beim Thema Einsamkeit auch sehr schnell mit psychischen Krankheiten wie Borderline, oder psychotischen Anteilen einer Person konfrontiert. Es ist wünschenswert, wenn man die Gemeinde schult – gerade die Heilsarmee, die hier über jahrhundertealte Erfahrung verfügt – und ihr den Schrecken nimmt vor den Erscheinungsformen solcher Krankheiten. Denn irgendwann hat man dieses vielleicht etwas «fremde» Dasein eines Mitglieds satt und ist überfordert. Da kann es dann sein, dass man beginnt freizubeten, jemanden zurück zu weisen oder gar einen Gemeindebann auferlegt. Das wird der Situation nicht gerecht!
Kirchgemeinden sollten ihre Gemeindeglieder darin schulen, was Einsamkeit mit Menschen macht.
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