In die Suchtberatung der Stiftung Berner Gesundheit kommen die unterschiedlichsten Leute aus allen Gesellschafts- und Altersschichten und mit den verschiedensten religiösen Hintergründen. Das Zielpublikum sind Angehörige wie Eltern, Partner, Kinder, etc. und selbstbetroffene Menschen, die sich Fragen zu ihrem eigenen Konsum stellen.
Konsum ist im weitesten Sinne gemeint und beinhaltet sowohl substanzgebundene wie auch substanzungebundene Süchte wie Essverhalten, Spielsucht, Kaufsucht, Online-Gaming etc. «Und bei den Substanzen gibt es wirklich alles, von den legalen Substanzen wie Zigaretten, Alkohol und Medikamente bis hin zu den illegalen Substanzen», erklärt Haike Spiller. «Die grösste Gruppe bei den problematischen Substanzen macht aber nach wie vor der Alkohol aus.»
Fast alle kommen freiwillig
Die meisten Selbstbetroffenen kommen freiwillig; es gibt aber auch einige Klientinnen und Klienten, die von der Justiz oder von der KESB zur Beratung oder Therapie geschickt werden, im Rahmen einer Massnahme. «Jugendliche kommen in der Regel als ‹Strafe› zu uns, wenn sie beim Kiffen erwischt wurden – das ist so eine besondere Abmachung zwischen der Jugendstaatsanwaltschaft und der Berner Gesundheit», erläutert Haike Spiller. Einige kommen auch auf Druck, beispielsweise von Angehörigen: «Also der Klassiker ist der Ehepartner, der ein Ultimatum ausspricht, wie etwa ‹Ich halte das nicht mehr aus und du musst jetzt sofort was ändern›, und deswegen müssen sie dann in die Beratung kommen. Einige wollen nicht, trauen sich nicht, aber es kommen dann die Eltern, die Schwester, der Bruder, die Kinder, die beste Freundin, und suchen sich Rat. Aus diesem Grund bietet die Berner Gesundheit auch Beratung und Unterstützung für Angehörige an.»
Die grösste Altersgruppe, schätzt Haike Spiller, sind die Dreissig- bis Fünfzigjährigen. «Es kommen aber auch viele ältere Leute, also auch Leute im Pensionsalter zu uns, tendenziell steigend. Jugendliche kommen eher selten, es sei denn, es wird angeordnet. Denn die meisten Jugendlichen sind nicht süchtig in dem Sinn und sehen ihren eigenen Konsum als unproblematisch, auch wenn die Eltern das zum Beispiel anders sehen.»
Bei einer Suchttherapie ist alles relevant
«Die Klienten kommen zu uns zu einem Beratungs- oder Therapiegespräch», erzählt Haike Spiller weiter. «Und natürlich, der Konsum ist relevant, es ist auch relevant, was konsumiert wird und wie oft und in welchem Kontext, ob allein oder mit Freunden und zu welchen Tageszeiten, das ist alles wichtig. Aber viel relevanter ist, dass wir Sucht oder Konsum als Symptom sehen. Leute konsumieren aus einem Grund, das heisst, irgendwie hat es mal angefangen, dass die Person gemerkt hat: ‹Aha, mit Alkohol kann ich mich entspannen›, oder ‹Mit Cannabis habe ich mehr Spass mit meinen Freunden›, oder was auch immer – und dann entwickelt sich das problematische Verhalten.
Das heisst, wir sind sehr daran interessiert, die Lebenswelt der Klienten kennenzulernen und so die Gründe für den Konsum. Und in diesem Kontext ist natürlich der Glaube, die Spiritualität oder Religiosität auch relevant. Beim aktiven Zuhören, das wir als Berater und Beraterin praktizieren, kommt eigentlich alles raus.»
Glaube – ein Tabuthema?
Manche Arbeitskolleginnen und -kollegen von Haike Spiller erkundigen sich nicht spezifisch nach dem Glauben oder der Religiosität der Klientinnen und Klienten, weil sie davon ausgehen, dass dies sowieso zur Sprache kommt, wenn es relevant ist. Ihre Haltung ist ein bisschen anders: «Ich denke, dass Glaube oder Religion – ähnlich wie Sexualität – ein bisschen tabuisiert ist und vielleicht der Klient oder die Klientin sich ein wenig scheut, darüber zu reden.
Vielleicht, weil er oder sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hat oder dies irgendwie mitgeteilt bekam, dass wir eine Gesellschaft sind, wo man nicht über Religion redet. Das heisst, ich frage auch öfter aktiv nach – mit einer nicht wertenden und wohlwollenden Haltung, weil mich das auch interessiert, so wie mich alles andere interessiert.»
Wenn der Glaube zu inneren Konflikten führt
Haike Spiller und ihre Berufskolleginnen und -kollegen erleben es so, dass während einer aktiven Sucht eine starke Glaubensüberzeugung allenfalls zu Konflikten führen kann. Zu Konflikten zwischen dem Verhalten der Person und den Werten, die sie eigentlich vertritt. Dies kann dann Gefühle wie Scham oder ein schlechtes Gewissen auslösen, erläutert die Fachfrau: «Gefühle wie Scham sind sehr starke Gefühle und sehr destruktiv und könnten auch eventuell einmal dazu führen, dass eine Beratung oder Therapie nicht aufgesucht wird oder nicht fortgeführt wird. Oder dann zu noch mehr Konsum führt.
Wenn man dann aber mit den Klienten zusammen in den Prozess geht und die Therapie fortschreitet, sind da so viele Elemente in allen verschiedenen Religionen, die eher stärkend wirken. Und in allen Religionen ist ja auch die Möglichkeit der Vergebung Teil des Glaubens.»
Selbstverantwortung versus Vorherbestimmung
Ein Aspekt, den Haike Spiller in diesem Zusammenhang auch einfliessen lässt, ist der Punkt von Selbstverantwortung im Gegensatz zu Vorherbestimmung: «Ein Ziel in Beratung und Therapie ist es, dass Menschen identifizieren lernen, welche Entscheidungen sie machen und für welche Aspekte ihres Lebens sie verantwortlich sind. Und diese Bekundung ‹Dafür bin ich selbst verantwortlich› kann manchmal schwierig werden, wenn der Glaube sehr stark verankert ist.
Vielleicht glaubt der Mensch ‹Ich bin eigentlich nur eine Figur auf dem Schachbrett, und Gott bestimmt für mich alles. Also wenn ich morgen sterben werde an einer Überdosis, dann war’s einfach mein Tag, weil Gott es so beschlossen hat.› Das ist natürlich schwierig, sich mit diesem Glaubensansatz auf eine Therapie einzulassen, wo es ja um Selbstverantwortung geht.»