von Markus Brunner, Leiter DHQ Ost. Lesedauer: 5 Min. · 0 Kommentare
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Es ist der 24. Dezember, 18 Uhr. Der Zug kommt bald an. Sie ist seit über einer Stunde unterwegs. Ihre innere Reise dauerte länger, viel länger. Der Albtraum begann vor über 20 Jahren. Mia war 14 Jahre alt, als sie von ihrem Stiefvater missbraucht wurde. In jener Nacht brach ihre Welt auseinander.
Ein langer Kampf
Es war der Anfang eines langen Kampfes gegen Scham, grundlose Schuldgefühle und innere Blockaden. Sie suchte Halt in vermeintlich starken Männern, was zu neuen Enttäuschungen führte. Mit 16 Jahren hielt sie es zuhause nicht mehr aus. Sie fühlte sich von ihrer Mutter weder verstanden noch akzeptiert. Sie zog aus, suchte ein anderes, besseres Leben und fand neue Schwierigkeiten. Sie griff schliesslich immer mehr zu Alkohol und Tabletten, um ihren Schmerz zu betäuben. Irgendwann realisierte sie, dass sie sich auf einer Abwärtsspirale befand. Doch Mia gab nicht auf. Sie kämpfte weiter, auch wenn sie Jahre brauchte, bis sie zu einem einigermassen stabilen Gefühlsleben fand.
Ihr Stiefvater ist inzwischen verstorben. Er war schon vorher nicht mehr Teil ihres Lebens. Zurück bleibt eine zerrüttete Beziehung zu ihrer Mutter. Eigentlich ist es überhaupt keine Beziehung mehr. Mia fühlte sich von ihrer Mutter in einer entscheidenden Phase ihres Lebens im Stich gelassen. Das hat sie ihr nie verziehen. Ihr letzter Kontakt war vor über einem Jahrzehnt.
Ein besonderer Schritt
Heute ist Weihnachten. Ein Weihnachtsabend wie viele andere zuvor. Doch heute macht sie einen besonderen Schritt. Sie macht einen Schritt auf ihre Mutter zu. Deshalb ist sie unterwegs. Es mag eine normale Zugreise sein, aber für Mia ist es ein Wagnis. Neben ihr liegt ein Blumenstrauss mit angeklebtem Briefumschlag. Ihre Mutter weiss von nichts. Wird sie überhaupt die Tür öffnen? «Mmh, vielleicht sollte ich mich über die Sprechanlage als Blumenbotin ausgeben?» Ein schelmischer Plan nimmt Form an, ausgeheckt in Liebe zu ihrer Mutter. Liebe? Mia staunt über sich selbst und denkt zurück.
Ein Neubeginn
Vor Monaten hat etwas Neues in ihrem Leben angefangen. Es war in den Sommerferien. Eine gute Kollegin hat ihr auf einer Wanderung über die positive Wirkung von Vergebung erzählt. Mia erinnert sich an ihre erste Reaktion: «Vergebung? Hey, Therese, das ist schön und gut. Aber es gibt Dinge, die man nie vergeben kann!» Therese liess sich nicht irritieren. «Ja, das hab’ ich auch immer gesagt. Aber seit ich mit einer Gruppe zusammen die Bibel lese, glaube ich immer mehr, dass Vergebung ein Schlüssel für innere Freiheit und Frieden ist. Ein Gottesgeschenk. Für dieses Geschenk hat Jesus vor 2000 Jahren am Kreuz bezahlt. So wurde er zur Quelle für göttliche Vergebung. Wir können diese Vergebung für uns persönlich empfangen und durch unser Herz zu unseren Mitmenschen weiterfliessen lassen. So werden wir Teil eines göttlichen Lebensstroms. Wir empfangen Vergebung und schenken sie weiter. Ich bin heute überzeugt: Auch traumatische Erfahrungen lassen sich überwinden, wenn wir sie innerlich loslassen, Gott überlassen.»
Mia hatte viele Einwände und Fragen. Nach weiteren Gesprächen ist sie inzwischen aber selbst Teil dieser Bibelgruppe. Und da haben sie vor ein paar Wochen über Weihnachten diskutiert. Das Fazit jenes Abends: «An Weihnachten wurde Gott Mensch, um die Menschen da abzuholen, wo sie sind.» Das hat Mia selbst erlebt. Jesus hat sie mitten in ihrer Bitterkeit und Verletztheit abgeholt. Sie hat Vergebung empfangen und wollte sie nun weiterverschenken. Das war eine Entscheidung – und der An-fang eines innerlichen Prozesses. Immer wieder hat sie ihre Anklagen und ihre Rachegedanken Gott zugeschrien und bei ihm abgeladen. In vielen inneren Kämpfen hat sie immer wieder neu vergeben. Schliesslich konnte sie ganz loslassen, um Rache und Gericht Gott zu überlassen. Der Strom der Vergebung fliesst jetzt auch durch Mias Herz. Heute, am Weihnachtsabend, will sie diesen Strom mit einem Überraschungsbesuch sichtbar machen.
Ein Wagnis
Jetzt ist es so weit. Mia steht vor der Haustür. Sie zögert. Mutet sie ihrer Mutter und sich selbst nicht etwas zu viel zu? Sie gibt sich einen Ruck und klingelt. Es vergehen einige Sekunden: «Ja, wer ist da?» Mia räuspert sich und verstellt ihre Stimme: «Blumen für Sie!» «Wie bitte?» Wieder vergehen ein paar Sekunden. «Für mich? Ähm, kommen Sie rein. Dritter Stock.» Die Haustür entriegelt sich mit einem Summen. Mia nimmt den Lift in den dritten Stock und stösst die Tür auf. «Mia?» Die Mutter steht wie angewurzelt da. «Frohe Weihnacht, Mutter!» Mia hält ihr den Blumenstrauss entgegen. Sie umarmen sich.
Die Mutter lädt Mia in die Wohnung ein. «Ich habe keinen Weihnachtsbaum. Wusste auch nicht, was ich hätte feiern sollen.» Sie führt Mia ins Wohnzimmer. «Mia, es ist so schön, dass du da bist!» Die Mutter öffnet den Briefumschlag und liest. Mia ist gespannt. Wie wird ihre Mutter auf den Brief reagieren? «Mia, du entschuldigst dich, weil du dich von mir zurückgezogen hast? Ach, es tut mir ja alles so leid! Aber machst du mir wirklich keine Vorwürfe mehr?» Mia räuspert sich: «Mutter, ich habe ver-geben. Ich bin dankbar und froh, dass auch mir alles vergeben ist.» Sie hält einen Moment inne. «Heute ist Weihnachten. Gott wurde Mensch, um uns Menschen da abzuholen, wo wir nun mal sind. Mich hat Gott aus tiefster Bitterkeit abgeholt und mich durch Vergebung in eine neue Freiheit geführt.»
«Ach du meine Güte!» Die Mutter verwirft ihre Arme und schaut sich um. «Ich habe dir ja noch überhaupt nichts angeboten! Und das an Weihnachten! Was meinst du, wie wäre es, wenn wir miteinander etwas kochen würden?» Mia lacht und sagt gerne zu. Beide gehen in die Küche. Sie durchsuchen Kühlschrank und Vorratsschrank. Für ein Weihnachtsessen wird es nicht reichen. Aber was soll’s. Mutter und Tochter sind sich einig: «Weihnachten ist vor allem eine Herzenssache.» Sie kochen und erzählen, kochen und plaudern. Es entsteht ein originelles Essen, das beiden schmeckt.
Ausser man tut es
Stunden später fährt Mia wieder nach Hause. Ihre Mutter wird kaum alles verstanden haben, was ihr Mia über den «Vergebungsstrom» erzählt hat. Aber Mia ist überzeugt, dass ihre Mutter mit ihrem Herz mehr verstanden hat, als sie mit Worten ausdrücken konnte. Dieser Weihnachtsabend hat ihre Beziehung verändert. Mia überlegt: «So sollte es ja auch sein. Die Weihnachtsbotschaft will unser Leben verändern.» Und wieder erinnert sie sich an das Fazit jener Diskussion in der Bibelgruppe: «An Weihnachten wurde Gott Mensch, um die Menschen da abzuholen, wo sie sind.»
Zurück in ihrer Wohnung ist Mia noch kein bisschen müde. Ihr Herz ist erfüllt. Sie sitzt am Küchentisch, trinkt einen Tee und schüttelt den Kopf. «Ist doch eigentlich verrückt», sagt sie zu sich selbst. «Einfach in den Zug steigen, um meine Mutter zu besuchen, mit der ich über 10 Jahre nichts mehr zu tun haben wollte.» Sie schmunzelt. «Das Risiko hat sich gelohnt.» Mia ist überzeugt: «Es gibt Dinge, die man einfach machen sollte, ohne lange darüber nachzudenken. Um Vergebung bitten und Vergebung aussprechen, sind solche Dinge. Man kann darüber lesen und diskutieren. Erleben kann man es nicht – ausser man tut es!»
Markus Brunner, Autor von «Neues aus Bethlehem», Fontis Verlag
«Es gibt Dinge, die man einfach machen sollte, ohne lange darüber nachzudenken. Um Vergebung bitten und Vergebung aussprechen, sind solche Dinge.»
Gastautor
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