Marina, Thomas und Kathrin diskutieren über Sucht. (Video, 22 Min.)

Drei Mitarbeitende des Durchgangsheims in Winterthur haben das Thema Sucht beleuchtet und sich über verschiedene Themen im Bereich unterhalten. Herausgekommen ist ein Expertenaustausch, welcher die Formen und Auswirkungen von Sucht, die kontrollierte Ersatzmittelabgabe (Substitution), Entzugs- und Behandlungsformen anspricht. Nachfolgend das Transkript des Videos (siehe oben).

Was bewirkt Sucht im Kopf?

Kathrin: Bei vielen ist es am Anfang eine Euphorie, ein Glück, ein Gefühl.

Marina: Das kommt auf den Stoff an. Im Gehirn werden aber vor allem Glückshormone – die Botenstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin – ausgeschüttet. Dort setzt die Sucht an.

Kathrin: Genau. Man versucht dann, dieses Glücksgefühl wieder zu erreichen. Die Sucht selbst ist dann die Folge davon.

Thomas: Was bewirkt Sucht im Kopf? – Sucht trainiert letztendlich Verhaltensmuster. Dissoziation, also Verdrängung, ist bei unseren Bewohnern häufig anzutreffen. Eigentlich erleben wir da eine Selbstmedikation.

Marina: Es ist auch eine Art von Sedation (Beruhigungsmittel, Anm.).

Kathrin: Genau, eine Flucht in die eigene Welt.

Marina: Wenn sie also belastende Gedanken haben, versuchen sie diese mit dem Stoff zu verdrängen. Dissoziation ist das Austreten aus dem Alltag, der Wahrnehmung entfliehend.

Daniel (Moderator): Das heisst sie fliehen vor einer Realität, die für sie zu hart ist.

Marina: Es ist aber auch eine Art Belohnungssystem. Viele Menschen haben dies. Ich selber gehe zum Beispiel eine rauchen, nachdem ich eine Arbeit beendet habe. Dieses antrainierte Belohnungssystem ist eben dann die Sucht. Der Fokus der Diskussion ist häufig bei Drogen und Obdachlosen.

Kathrin: Bei uns geht es vor allem um die beiden Themen, vielleicht noch um Esssucht, die auch extrem mit Belohnung zusammenhängt…

Marina: Auch mit dem Füllen, den Mangel an Nähe und Selbstwert mit dem Füllen des Körpers kompensieren.

Politoxie - Mehrfachsucht, Abhängigkeit von mehreren Suchtmitteln

Marina: Unser neuster Zugang ist als Alkoholiker angekommen, mit der Zeit deckt man erst auf, was sonst noch läuft. Er konsumiert, was ihm angeboten wird: Amphetamin, Kokain etc. Und die Menschen nehmen häufig gar nicht bewusst wahr, dass dies in eine neue Form von Sucht mündet… *** ist polytox, hat Kleptomanie (eignet sich Sachen an), dissoziiert und konsumiert Drogen.

Kathrin: Ja wann fängt da die Sucht an? Ich würde sie aber nicht als polytox bezeichnen, wenn ich sie so beschreiben müsste.

Thomas:  Ich schon, ganz klar. Schau schon nur mal, was sie alles gern hat… weil sie nur alle zwei Wochen kokst, ist sie also noch nicht koksabhängig?

Kathrin: Ja, das ist nun die Frage…

Marina: Ja, per Definition ist Sucht der Drang, den Entzugserscheinungen bei fehlendem Konsum zu entgehen, es braucht eine Dosissteigerung sowie der Verlust der Selbstkontrolle, wie bei ***. Das stellen wir am häufigsten fest: Hinter der Sucht steht häufig eine Persönlichkeitsstörung oder Erkrankung.

Sucht, psychische Erkrankungen und Entzug

Kathrin: Ein Entzug alleine bringt meistens nichts, sie muss lernen, mit ihrer psychischen Krankheit klar zu kommen. Aktuell haben wir ja @@, der eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. Er ist polytox und soll in einen Entzug. Was hat er mit Dir diskutiert?

Thomas Er sagt, er wolle von den Suchtmitteln wegkommen. Er habe bereits abgebaut und ist im Programm. Er möchte in einer betreuten Wohnform wohnen, da er sich selbst nicht zutraut, abstinent zu bleiben und dazu eine Ausbildung zu machen.

Marina: Das ist nun das Dilemma, was tun wir nun mit ihm? Entzug, damit wir seine Persönlichkeitsstörung therapieren können, oder diese zuerst stabilisieren, damit wir den Entzug machen können? Das ist bei uns Alltag, für den es keine Pauschallösung gibt.

Kathrin: Die gibt es in Lehrbüchern, aber mit einem stabilen Setting wie einem mittragenden Umfeld. Da braucht es ganz viele tragende Stützpfeiler für den Erfolg. Unsere Bewohner müssen tagsüber auf die Strasse, da wir nur eine Notschlafstelle sind, es fehlt also das Minimum, wo eine Therapie ansetzen kann. Die Erwartungshaltung ist aber «mach mal vorwärts». Darauf kann man aber nicht aufbauen.

Lösung "Tagesstruktur" - Wohnen Plus

Daniel: Ist denn «Wohnen Plus» eine mögliche Lösung?

Kathrin: Das ist eine wunderbare Lösung. Genau aus diesem Grund wurde das in’s Leben gerufen, damit Leute, die aus all diesen Angeboten mit Betreutem Wohnen rausfallen, ein Zuhause haben, damit man anfangen kann, mit ihnen zu arbeiten. Diese Leute kommen immer wieder zu uns zurück, weil sie anderswo rausfliegen. «Wohnen Plus» gibt es seit fünf Jahren: Zuerst ein Zuhause, später eine Beziehung mit Ihnen, damit man irgendwann an eine Therapie denken kann. Aber das ist ein langer Prozess.

Marina: Unser Dilemma ist zwischen Verständnis und Struktur. Sie machen stationären Entzug, konsumieren aber dennoch und fliegen raus. Das ist auf der einen Seite verständlich, sie sind ja in der Suchtbehandlung. Der Abbruch geschieht aber doch nach einem gewissen Weg, das heisst die Dosisminderung haben sie erreicht, sind nun aber wieder auf der Gasse und frustriert über den Misserfolg, und konsumieren so wieder. Und so kommen sie dann zu uns. Deshalb ist es wichtig, medizinisch geschultes Personal zu haben, das solche Situationen einschätzen kann.

Kathrin: Ja, es ist aber sehr schwierig. Da kommen Leute aus der Psychiatrie mit – wortwörtlich – einem Sack voll Medikamenten, ohne Rezept und nichts. – Eine Wühlkiste! Und sie machen sich zu Experten auf dem Gebiet, wühlen darin rum, und sagen, wieviel sie von was ertragen, da läuft es mir kalt den Buckel runter. Und für solche Personen sollten wir  dann einschätzen können, was gesund ist und was nicht!

Legalisierung von harten Drogen

Thomas: Die Drogenlegalisierung würde zur Entstigmatisierung führen. Hier der Drögeler, dort der Programmteilnehmer, obwohl Du das gleiche Produkt nimmst, auch wenn das eine davon qualitativ besser ist. Auf der Strasse wird viel Dreck konsumiert, was starke Nebenwirkungen hat: Exzesse, Wasser in den Beinen, heftige Geschichten.

Kathrin: Aber nicht nur aufgrund der schlechten Drogenqualität. Auch aufgrund von körperlicher Hygiene, psychischem Zustand und so.

Marina: Da kommt mir ## in den Sinn, mit komplexer Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Anteilen, dazu paranoide Schizophrenie als Erkrankung, Borderline, was in einem Sammelsurium von verschriebenen Medikamenten gegipfelt hat. Und dies hatte natürlich massive medizinisch-biologische Auswirkungen auf den Stoffwechsel.

Thomas: Interessant war ihr Aufenthalt im Gefängnis. Sie hätte ein paar Jahre absitzen müssen, nach drei Wochen rief der Strafvollzug an, ob sie sie zurückgeben könnten. Sie sei nicht tragbar. Sie war sehr intelligent…

Wie betreut man Menschen, die immer wieder abstürzen?

Marina: Die Hoffnung in den Menschen ist das Wichtigste. Auch wenn man immer wieder an den Anfang zurückgeworfen wird. Jeder Mensch hat Ressourcen, die man fördern kann. Deshalb haben wir Wohnen Plus ins Leben gerufen. ++ zum Beispiel hat immer ein ordentliches Zimmer gehabt, das ist mir aufgefallen. Sonst war er hochalkoholisiert mit gewalttätigen Anwandlungen. Das hat für mich nicht zusammengepasst. Dort setzen wir an, die Menschen als Ganzes anzuschauen und das, was sie können.

Thomas: Ich sehe eher bedürfnisorientierte Begleitung ohne die Hoffnung, dass sich was bessert. Ich freue mich natürlich, wenn sich was verändert. Es reicht, wenn sie zufrieden und entspannt sind. Ich versuche, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und sie zu begleiten. Menschliche Grundbedürfnisse wie Nähe, Verständnis, Wertschätzung geben mir die Basis zum Weitermachen bei diesen hoffnungslosen Fällen.

Kathrin: Am Anfang habe ich diese Verzweiflung erlebt, bis ich kapiert habe, dass wir diesen Menschen hier ein Zuhause bieten. Sie brauchen eine Hand, die Halt gibt. Und die kommen nach Hause zu uns. Traurig, dass wir ihr Zuhause sein müssen, aber wunderschön, dass sie eines haben.

Marina: Letzthin hat jemand bei uns übernachtet, den habe ich gefragt, ob er Schweizer sei. Er antwortete, er wisse das nicht, er sei auf der Strasse geboren. Für Leute wie ihn ist das Durchgangsheim das erste Zuhause.

Wie hat sich Corona auf Drogensüchtige ausgewirkt?

Kathrin: Alkoholiker zum Beispiel konnten nicht mehr das billige Bier im Discounter kaufen, wodurch sie vermutlich etwas mehr kriminalitätsgetrieben waren.

Marina: Während des ersten Lockdowns wurde ich mir bewusst, dass unsere Klienten krisenresistent sind, sie kennen das normale Leben gar nicht. Durch die erhöhte Sichtbarkeit haben sie mehr Polizeikontrollen erlebt. Da gab es plötzlich mehr Angstzustände und Paranoia. Randständige waren plötzlich wie ausgestellt, da fast alle Menschen zuhause bleiben mussten.

Was ist das Wichtigste in der Arbeit mit Suchtkranken?

Marina: Die Akzeptanz, Empathie und das Verständnis, ohne zu verurteilen, ist die Grundlage für die Beziehung, auf der wir aufbauen. Das Stigma «süchtig» soll nicht im Zentrum stehen, sondern der Mensch.

Kathrin: Ich finde sehr wichtig, dass wir einander im Team haben. Nicht nur meine Meinung über einen Klienten soll zählen.

Marina: Wichtig ist, dass wir diese Leute von verschiedenen Aspekten her anschauen können, damit möglichst wenige Fehler passieren.

Thomas: Ein wichtiges Anliegen, für das wir auch immer wieder schulen lassen, ist unsere Haltung zu gewaltfreier Kommunikation, innerhalb und ausserhalb unseres Teams. Ein wichtiges Instrument, wie wir mit Süchtigen arbeiten.

Marina: Die Begegnung auf Augenhöhe, auch wenn wir uns manchmal unserer Macht bedienen müssen aufgrund unserer Funktion. Durch das Bewusstsein dafür sprechen wir es auch offen an und bieten – wo möglich – Wahlfreiheit an.

Thomas: Wenn ich manchmal in Sachen Sympathie an meine Grenzen komme, muss ich mich selber fragen, wie professionell ich noch bin. Da braucht es dann Selbstreflexion.

Marina: Wir machen auch viel Schattenarbeit. Die Eigenverantwortung zum Bewusstsein der eigenen Schatten bringt jeder Mitarbeiter mit, bittet das Team auch um Hilfe, und wenn wir nicht weiterkommen, geht es in die Supervision. Dies im Sinne von Selbstfürsorge.

Daniel: Vielen Dank für das Gespräch.

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  • Bernard

    Hoffnung ist das wichtigste um längerfristig trocken zu sein. Wer Hoffnung hat gestaltet sein Leben eher wieder sinnvoll. Wenn auch Hoffnung aus der Bibel kommt, braucht sie Menschen die Hoffnung leben und dir Hoffnung vermitteln. Also der Arm Gottes auf Erden sind. Vielen Dank für eure Arbeit und Hoffnung im schwierigen Alltag. Meine Frage bleibt, wo sind die Orte wo Jemand eher unauffälliges echte Gemeinschaft hat ohne religiösen Stress und wo können Nähe und Echtheit gelebt werden. So viele religiöse Gruppen haben etwas Mühe mit Transparenz. Das kann ich als Mensch mit Suchttendenz sagen. Warum haben wir in der Schweiz nicht mehr Selbsthilfegruppen?

    • Irene Gerber Autorin

      Guten Tag Bernard, Erst mal vielen Dank für Ihren Kommentar und entschuldigen Sie bitte die verzögerte Reaktion. Sie haben recht; Hoffnung ist etwas vom Wichtigsten und die Bibel ist voll von hoffnungsvollen Botschaften, die unserem Leben Sinn und Perspektive geben können. Dass diese Hoffnung, ebenso wie Gemeinschaft mit echter Nähe, ohne religiösen Druck, auch in kirchlichen Gemeinschaften leider nicht immer ausgelebt und vermittelt wird, bedauern auch wir sehr. Es ist auf jeden Fall unser Wunsch und Anliegen, durch unsere Arbeit Hoffnung zu vermitteln und heilsame Gemeinschaft in Freiheit zu ermöglichen. Liebe Grüsse, Irene Gerber, Heilsarmee

Das Durchgangsheim Winterthur - Ein Zuhause für Suchtkranke

Die Heilsarmee bietet in Winterthur ein vernetztes Angebot für Hilfesuchende. Das Durchgangsheim steht in Verbindung mit dem Wohnheim und dem Angebot Wohnen Plus. Dadurch ist eine effizientere Betreuung von Obdachlosen und Drogensüchtigen möglich. Besuchen Sie die Standort-Webseite für mehr Informationen.

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