Was braucht es, nebst Gemeinschaft, um der Einsamkeit zu entfliehen?
Der erste Schlüssel ist, sie zuzulassen. Dem Gefühl einen Namen zu geben: «Wisst ihr was, ich nehme an mir wahr, dass ich mich einsam fühle.» Einsamkeit ist schambehaftet, man tut alles, um nicht sagen zu müssen, man sei einsam. Corona sei Dank, hat sich das ein wenig verändert und die Einsamkeit ist salonfähig geworden. Danach ist die Frage, was macht man? Schaffe ich es, in einen Hauskreis oder zu meinem Pfarrer zu gehen und zu fragen, ob ich irgendwo mitmachen kann? Trick 77: Am besten ist es, wenn man irgendwo mithelfen kann. Denn helfen gibt Würde. Zusammen singen, musizieren und tanzen hilft ebenfalls. Musik ist sehr gut gegen Einsamkeit.
Ich würde sagen, man muss in erster Linie aufbrechen von sich und Kontakt suchen.
Inwiefern spielt hier die Gesellschaft eine negative Rolle, dass Einsame wegen den wirkenden Gefügen nicht aus ihrer Situation ausbrechen können?
Ja das ist die ganz grosse gesellschaftliche Frage, nicht wahr? Das beginnt schon mit unserem Verständnis von Arbeit. Oder, was gibt einem Menschen seinen Wert? Wenn jeder zwischen 8.00 und 18.00 Uhr seiner Karriere hinterherrennt, hat keiner mehr die Zeit, mit jemandem ausserhalb der Arbeit ein Kaffee zu trinken. Es hat doch einen riesigen Wert, wenn in einer Paarbeziehung, der eine oder die andere sagt: «Die Aufgabe als Hausfrau oder Hausmann gibt mir eine Perspektive von Freiwilligenarbeit» und beide tun alles dafür, die Zeit dafür freizuschaufeln! Damit kann dann eine «caring community», also ein Netzwerk aufgebaut werden in der Nachbarschaft oder in Kirchgemeinde geholfen werden.
Das sind völlig antizyklische Ansichten zum jetzigen gesellschaftlichen Verständnis…
Tatsächlich. Viele Eltern planen immer noch grösstenteils, die Kinder möglichst früh in Fremdbetreuung zu geben, damit sie in der Wirtschaft wieder ein vollwertiges Mitglied sind und das Bruttosozialprodukt mit steigern. Aus meiner Sicht fahren wir uns soziologisch und gesundheitlich mit unserem jetzigen Wertesystem gesellschaftlich an die Wand.
Gino Brenni
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