Irene Widmer-Huber spricht mit der Heilsarmee über das Phänomen Einsamkeit

Einsamkeit in der Schweiz

Grafik BfS, Einsamkeitsgefühl (2017)
Grafik BfS, Einsamkeitsgefühl (2017)

Quelle: BfS

Es gibt nebst Erhebungen durch das Bundesamt für Statistik (siehe oben) noch andere Indikatoren. Beispielsweise die Anzahl Single-Haushalte. Welche weiteren Rückschlüsse weisen auf zunehmende Einsamkeit hin?
Kerstin Engel (lebt ebenfalls in einer der diakonischen Hausgemeinschaften in Riehen, Anm.) hat in ihrer Studienarbeit herausgefunden, dass es einen Zusammenhang zwischen Beistandschaft und Einsamkeit geben könnte. Also, dass jemandem das Leben entgleitet, weil er oder sie einsam ist und deswegen eine Beistandschaft braucht. Überdies gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen medizinischen Faktoren und Einsamkeit, z.B. Übergewicht, Herzinfarkte, oder einfach die Anzahl Arztkonsultationen. Frome, ein südenglisches Städtchen, das am Drücker ist bezüglich Einsamkeit, hat einen Rückgang festgestellt bei den Arztkonsultationen, seit sie ihr Einsamkeitsprojekt zum Laufen gebracht haben. Nach dem Projektstart hatten sie 20% weniger Arztbesuche in Frome, als in den umliegenden Dörfern und Städten, welche sich nicht so intensiv mit Einsamkeit auseinandersetzten. Der Zusammenhang ist noch nicht wissenschaftlich belegbar, aber als Erfahrung messbar. 

Zur Person: Irene Widmer-Huber

Handelsdiplom, später Ausbildung in der Schule für Diakonie und Gemeindearbeit in Zürich mit Fokus auf Sozialarbeit und Diakonie.Ab 1991 Diakonin in Strengelbach, in der reformierten Landeskirche. Leben und wohnen in Gemeinschaft. Von da aus Übertritt nach Basel zum Verein «offene Tür», Arbeit mit Drogenabhängigen. Mann half beim Drogenentzug mit, sie führte einen Haushalt mit Kindern in einem grossen Haus. Da begannen beide, das erste Mal Menschen aufzunehmen. Seit 1991 leben Widmer-Huber und ihr Mann in Gemeinschaftsformen. Die Grösse der Gemeinschaften ist dabei stetig gewachsen. Im Fischrain, in Riehen begannen sie, Hausgemeinschaften zu gründen. Diese Wohnform ist für beide ein Lebensstil, der einen Menschen ausmacht. Umso mehr, wenn man anfängt, Verantwortung für Menschen zu übernehmen, die kommen und gehen.

Studien belegen ja, das Einsamkeit krank macht. Welche Folgen auf den Körper und die Psyche bringt Einsamkeit mit sich?  
Einsamkeit ist neurobiologisch gesehen Stress. Es bringt den Hormonhaushalt durcheinander, weil es ein Schmerz ist. Daher hat sie auch die gleichen Folgen wie irgendein anderer Schmerz: Bluthochdruck, Herzinfarkt, Essstörungen, Übergewicht. Zudem hat es eine riesige psychische Dimension. Wo die Korrektur der Einsamkeit durch ein Kollektiv fehlt, können Ängste und Psychosen entstehen.

Was braucht es, nebst Gemeinschaft, um der Einsamkeit zu entfliehen? 
Der erste Schlüssel ist, sie zuzulassen. Dem Gefühl einen Namen zu geben: «Wisst ihr was, ich nehme an mir wahr, dass ich mich einsam fühle.» Einsamkeit ist schambehaftet, man tut alles, um nicht sagen zu müssen, man sei einsam. Corona sei Dank, hat sich das ein wenig verändert und die Einsamkeit ist salonfähig geworden. Danach ist die Frage, was macht man? Schaffe ich es, in einen Hauskreis oder zu meinem Pfarrer zu gehen und zu fragen, ob ich irgendwo mitmachen kann? Trick 77: Am besten ist es, wenn man irgendwo mithelfen kann. Denn helfen gibt Würde. Zusammen singen, musizieren und tanzen hilft ebenfalls. Musik ist sehr gut gegen Einsamkeit.

Ich würde sagen, man muss in erster Linie aufbrechen von sich und Kontakt suchen.

Inwiefern spielt hier die Gesellschaft eine negative Rolle, dass Einsame wegen den wirkenden Gefügen nicht aus ihrer Situation ausbrechen können? 
Ja das ist die ganz grosse gesellschaftliche Frage, nicht wahr? Das beginnt schon mit unserem Verständnis von Arbeit. Oder, was gibt einem Menschen seinen Wert? Wenn jeder zwischen 8.00 und 18.00 Uhr seiner Karriere hinterherrennt, hat keiner mehr die Zeit, mit jemandem ausserhalb der Arbeit ein Kaffee zu trinken. Es hat doch einen riesigen Wert, wenn in einer Paarbeziehung, der eine oder die andere sagt: «Die Aufgabe als Hausfrau oder Hausmann gibt mir eine Perspektive von Freiwilligenarbeit» und beide tun alles dafür, die Zeit dafür freizuschaufeln! Damit kann dann eine «caring community», also ein Netzwerk aufgebaut werden in der Nachbarschaft oder in Kirchgemeinde geholfen werden.

Das sind völlig antizyklische Ansichten zum jetzigen gesellschaftlichen Verständnis…

Tatsächlich. Viele Eltern planen immer noch grösstenteils, die Kinder möglichst früh in Fremdbetreuung zu geben, damit sie in der Wirtschaft wieder ein vollwertiges Mitglied sind und das Bruttosozialprodukt mit steigern. Aus meiner Sicht fahren wir uns soziologisch und gesundheitlich mit unserem jetzigen Wertesystem gesellschaftlich an die Wand.

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