Lebensgeschichte Vreni G*, Bewohnerin Passantenheim Bern.
Lebensgeschichte Vreni G*, Bewohnerin Passantenheim Bern.

«Grüessech, ich bin Vreni G.* Seit einem Monat schlafe ich im Heilsarmee Passantenheim an der Berner Muristrasse. Mittlerweile gefällt es mir hier gut, mit meinen zwei Zimmerkameradinnen spreche ich gerne und zum Abendessen sitzen wir gemeinsam am Tisch. Das war aber nicht immer so. Zuerst getraute ich mich kaum in den Aufenthaltsraum mit offener Küche. Ein Kochherd für zehn Frauen, wo sollte ich da Platz haben? Würden sie mich überhaupt akzeptieren oder wieder nur meiden?

Bevor ich ins Passantenheim kam, lebte ich in einer Wohngemeinschaft mit sieben Personen, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Es war eine Notlösung, nach sechs Jahren musste ich aus meiner geliebten Wohnung, da sie renoviert wurde. Den höheren Mietzins hätte ich mir danach nie leisten können. So kam ich mit 59 Jahren in diese Wohngemeinschaft. Wir waren alle sehr verschieden. Am Schluss konnte ich mit niemandem mehr sprechen und wurde gemobbt. Ich wollte nur noch weg. Gar nicht so einfach mit meinem knappen Budget. Zum Glück erzählte mir meine Sozialarbeiterin vom Passantenheim der Heilsarmee.

Hirntumor, Gewalt und Einsamkeit

Als ich hier ankam, stellten sie mich erst einmal unter die Dusche. Ich hatte mich in den letzten Jahren einfach zu sehr gehen lassen. Nach der Diagnose Hirntumor mit 55 veränderte sich mein Leben schlagartig. Nach der schweren Operation musste ich starke Medikamente nehmen. Ich kämpfte mich zwar zurück ins Berufsleben, doch es war einfach anders als vorher. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, und verwechselte immer wieder Dinge. Eines Tages auch Salz und Pfeffer – verheerend für mich als gelernte Köchin! Ich versuchte mich mit Aushilfsjobs über Wasser zu halten, doch es klappte nicht. Ich hatte keine Familie, die mich hätte auffangen können, und so zog ich mich immer mehr zurück.

Bei der Heilsarmee ging für mich eine Tür auf, eine Chance, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wieder unter fremden Leuten zu sein, machte mir jedoch Angst. Mit 60 Jahren war ich also tatsächlich wieder im Heim gelandet. Viele Erinnerungen an dunkle Stunden meiner Kindheit kamen in mir hoch. Als 10-Jährige kam ich schon einmal in ein Heim. Weil meine Mutter nicht für mich sorgen konnte, wuchs ich bei meiner Grossmutter auf. Ich liebte sie sehr, sie war wie eine zweite Mutter für mich geworden.

Eines Tages stand plötzlich eine fremde Frau vor unserer Tür und nahm mich unerwartet mit. Ich erfuhr, dass sie meine leibliche Mutter war. Vier Jahre erlebte ich Gewalt und Misshandlung durch meinen neuen Stiefvater. Auch meine Mutter schlug er. Einmal sogar, bis sie bewusstlos wurde. Im Nebenzimmer eingeschlossen, hörte ich die Schreie. Aber auch als die Polizei kam, wollte meine Mutter nicht aufwachen. Nach ihrem gewaltsamen Tod kam ich ins Heim.

Kochen verbindet

Nach der ersten Zeit der Eingewöhnung merkte ich, dass es im Heilsarmee-Heim anders ist. Aus Fremden wurden Vertraute. Eines Abends brachte Anna, eine Mitarbeiterin des Passantenheims, eine marktfrische Zucchetti und allerlei Zutaten für ein feines Essen mit. Ich nahm all meinen Mut zusammen und kochte mein erstes Menu seit langem. Ich staunte nicht schlecht, als sich plötzlich auch andere Frauen an den Tisch setzten und fragten, ob sie mitessen dürften.

Seit damals koche ich manchmal für die Frauen und merke, wie sehr mir mein Traumberuf immer noch Spass macht. Es ist schön, dass hier auch Jüngere wohnen, so fühle ich mich nicht schon wie im Altenheim. Wir sitzen alle irgendwie im selben Boot, das gibt mir Kraft. Hier kann ich über alles reden und muss mich nicht mehr für meine Vergangenheit schämen. Bis Weihnachten will ich eine kleine Wohnung für mich finden und danach vielleicht wieder eine Arbeit. Sicher wird irgendwo eine neue Tür für mich aufgehen.»

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