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Die energiegeladene Sechzigjährige empfängt mich frühmorgens mit einem herzlichen Lächeln vor einem dreistöckigen Wohnhaus im Zentrum von Amriswil. Hier befindet sich das sozialdiakonische Angebot Betreutes Wohnen & Wohnbegleitung mit einigen Wohneinheiten und dem Büro. Ines hat sich bereit erklärt, uns heute Einblick in ihre Arbeit zu geben – quasi stellvertretend für hunderte von engagierten Mitarbeitenden, die sich Tag für Tag an den Standorten der Heilsarmee für ihre Mitmenschen einsetzen. Dabei sind auch Videoaufnahmen geplant. Allerdings hat sie uns schon im Vorfeld gewarnt, dass es zu Unterbrechungen kommen kann, denn die Anliegen ihrer Klientinnen und Klienten gehen vor. Bis meine Kollegen mit dem Videoequipment eintreffen, nimmt Ines sich erst mal Zeit für einen Kaffee, bei dem sie mir viele spannende Details aus ihrem Alltag erzählt.
Ein Zuhause auf dem Weg in die Selbstständigkeit
Wir setzen uns in den Besprechungsraum im hinteren Teil des Büros. Vor gut einem Jahr war ich bereits einmal hier, um mit Cynthia, einer jungen Frau zu sprechen. Sie hat im Begleiteten Wohnen Amriswil endlich ein Zuhause gefunden und will seither mit ihrer Geschichte anderen Menschen Mut machen.
Heute geht es nun um die Leiterin dieser Institution, und ich bin gespannt, mehr von Ines und ihrer spannenden Tätigkeit zu erfahren. Die studierte Theologin, Psychologin und Sozialrechtlerin arbeitet seit November 2020 bei der Heilsarmee in Amriswil. Sie bringt einen reichen Schatz an Lebens- und Arbeitserfahrung mit, auch durch verschiedene längere Auslandaufenthalte. Dank ihres langjährigen Engagements in einem Stadtparlament und im Kantonalen Rat für Soziales und Gesundheit ist Ines zudem politisch bestens vernetzt – eine Tatsache, die ihr bei ihrer Aufgabe hier sehr zugute kommt. Wie sie denn zur Heilsarmee gekommen ist, nimmt mich wunder. «Nach einem siebenjährigen Arbeitseinsatz in Brasilien habe ich zuerst wieder bei der Reformierten Kirche gearbeitet. Irgendwann wollte ich aber etwas Neues machen, und da hat mein Mann das Stelleninserat der Heilsarmee in Amriswil gesehen. Ich wusste nicht so recht, ob das passt und zudem war das Inserat schon abgelaufen – da hat dann mein Mann einfach meine Bewerbung dorthin geschickt», erzählt Ines lachend. Da dies mitten in der Corona-Zeit war, liefen die Einstellungsgespräche nur via Bildschirm. Ein Start unter erschwerten Bedingungen also, aber er ist gut geglückt!
Seit Beginn ihrer Tätigkeit in Amriswil hat Ines das Angebot stetig ausgebaut, von der einfachen Wohnbegleitung hin zur erweiterten Wohnbetreuung. «Insgesamt verfügen wir über 12 Wohnungen und einen Notschlafplatz. Hier im Haus befinden sich auch eine Therapiewohnung und eine Mutter-Kind-Wohnung», erklärt Ines. «Bei der Wohnbegleitung geht es vor allem darum, Stabilität und Sicherheit zu geben. Da reicht normalerweise ein wöchentlicher Besuch, ein Gespräch. Wohnbetreuung ist viel zeitintensiver. Wir haben Bewohnende, die wir täglich besuchen, Gespräche führen, sie zu Terminen begleiten und ganz praktisch im Haushalt unterstützen.» Mit «wir», meint Ines sich und Doris Zürcher, eine weitere Mitarbeiterin. Doris bringt eine Ausbildung im Pflegeberich mit und ergänzt somit die Betreuungsarbeit ideal.
Ein Stück Familie
Das Büro, in dem wir uns befinden, dient nicht nur als Arbeitsort, sondern auch als allgemeiner Treffpunkt für die Bewohnerinnen und Bewohner. So schauen auch heute bereits zu früher Stunde verschiedene Leute vorbei, um etwas zu fragen oder mitzuteilen.
Ines war es von Anfang an wichtig, dass die Klientinnen und Klienten eine Aufgabe haben, nicht den ganzen Tag allein in der Wohnung sind. «Ich habe versucht, die Bewohnenden in den Arbeitsalltag einzubeziehen. Mir war es wichtig, Tagesstrukturen zu schaffen, Ausbildungsplätze zu organisieren usw. Ein Bewohner beispielsweise macht in der Tagesstruktur Abwartsdienst, erledigt hauswirtschaftliche Arbeiten. Oder Severin, der häufig bei mir im Büro ist, nimmt mir viele Aufgaben ab.» Severin Kunz ist auch jetzt vorne im Büro – und noch jemand ist bei ihm: Lilly. «Lilly ist Severins Therapiehündin, ein Border Collie», erklärt Ines. «Sie ist aber im ganzen Haus daheim, geht auch zu anderen Bewohnerinnen und Bewohnern, hat schon viele Tränen getrocknet. Sie ist für alle da …»
Nicht nur das Büro ist ein wichtiger Treffpunkt, sondern auch der kleine Sitzplatz hinter dem Haus, wo die Bewohnenden einen Kräutergarten angelegt haben. «Die meisten Menschen, die hier wohnen, haben keine Familie oder kaum Anschluss, da ist das hier ein Stück Familie. Das merke ich immer wieder, wenn am Nachmittag oder gegen Abend alle da sind. Oft sitzen sie dann einfach hinten im Gärtchen. Sie wissen: Jemand hört zu, und wenn ich Hilfe brauche, ist jemand da – das schätzen sie sehr.»
Keine Zeit? Doch – kommt mit!
Unterdessen sind auch die Kollegen mit der Videoausrüstung eingetroffen; es kann losgehen mit den Filmaufnahmen. Dabei ist viel Flexibilität gefragt, denn immer wieder rufen Leute an oder kommen vorbei mit einer Frage oder einem Anliegen. Für Ines ist klar, dass sie sich dafür Zeit nimmt. In ihrem Steckbrief hat sie dies auch als ihr Markenzeichen angegeben: «Wenn man mich braucht, bin ich da.» Das gilt übrigens auch am Abend, in der Nacht oder am Wochenende. «Wenn es einen Notfall gibt, springe ich ins Auto und fahre los … Wir sind hier 24 Stunden verfügbar.»
Unkompliziert wie Ines ist, können wir sie daher einfach mit der Kamera durch ihren Alltag begleiten, während sie eine Klientin besucht, Anfragen von Bewohnenden beantwortet oder in der Stadt Besorgungen erledigt.
Ein strenger Engel
Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist das Gespräch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern – Ines hat feste Zeiten eingeplant für Hausbesuche. Heute trifft sie sich mit Frau Trachini, einer Bewohnerin, die sich zurzeit noch in einer Klinik aufhält und bald wieder in ihre Wohnung zurückkehren wird – sie ist für das Gespräch nach Amriswil gekommen. Die beiden sitzen am Küchentisch und besprechen die Rückkehr.
«Mit Menschen so unterwegs zu sein, ist nicht einfach», weiss Ines. «Jede und jeder bringt ein riesiges ‹Lebenspäckli› mit, und die meisten Probleme sind nicht gelöst oder aufgearbeitet. Daher kommt es im Verlauf von Gesprächen häufig zu ganz vielen Emotionen, weil etwas aufgewühlt wird. Aber das ist gut so, denn dadurch kommt ein Prozess in Gang. Das braucht auch Zeit. Meine Praxiserfahrung aus der Psychologie zeigt: Die Leute müssen sich ein Stück weit selbst an den Haaren aus den Problemen ziehen. Ich kann zwar mitziehen, aber sie müssen selbst Energie aufbringen.»
Ines bringt also trotz viel Annahme, Toleranz und Wertschätzung auch eine gewisse Strenge mit. «Für die Bewohner bin ich Hausmutter, Tante, Chefin, Feldwebel – alles in einem», meint sie lachend. Und diese klare Linie wird auch durchaus geschätzt. Die Bewohnerin bestätigt dies und meint: «Frau Schroeder ist streng, aber gerecht.» Und fügt hinzu: «Aber für mich ist sie auch irgendwie ein Engel. Weil ich weiss, wenn es mir ganz schlecht geht, kann ich sie anrufen. Also: Sie ist ein strenger Engel.»
Quellen der Kraft
Man muss Menschen mögen
Zusammengefasst kann man sagen: Man muss Menschen mögen. «Es ist nicht immer einfach», meint Ines. «Man braucht eine gewisse Toleranz, unheimlich viel Humor, und man muss auch mal über den eigenen Schatten springen können. Aber ich erhalte auch ganz viel zurück – in ganz kleinen Samenkörnern, aber daraus wird immer etwas Grosses! Ich habe unglaublich viel gelernt. Und: Wir lachen ganz viel zusammen.»
Das wiederum können wir bestätigen – auch wir haben an diesem Tag viel gelacht. Und dies trotz der grossen Hitze von 34 Grad!
Danke Ines und allen Beteiligten für den bereichernden Einblick in euren Alltag!
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