Mirjam Ott, Mitarbeiterin im Durchgangsheim der Heilsarmee in Winterthur hat mit Bewohnenden über deren Sucht und Glauben gesprochen.

Mirjam Ott ist Sozialpädagogin und Erwachsenenbildnerin. Seit gut zwei Jahren arbeitet sie unter anderem als Springerin in der Betreuung im Durchgangsheim der Heilsarmee in Winterthur. Die drei Bewohnerinnen beziehungsweise Bewohner, die sie zum Thema Sucht und Glaube befragt hat, leiden schon seit längerer Zeit an einer Suchterkrankung und konsumieren unterschiedliche Substanzen. Im folgenden Artikel kommen die Gedankengänge, der Wortlaut dieser Menschen zum Ausdruck. Gleichzeitig entsprechen die Aussagen auch den eigenen Erfahrungen von Mirjam, wie sie die Menschen wahrnimmt. Und sie gibt auch einen Einblick, was ihr persönlich bei der Arbeit mit suchtbetroffenen Bewohnerinnen und Bewohnern wichtig ist.

Zwischen Abwertung und Annahme

Der Glaube als Stütze und Beschwernis

«Die Menschen finden sich in einer Diskrepanz zwischen ihrer Abhängigkeit und diesem Heil-Sein, sie bemerken, dass ihr ‹Fleisch› süchtig ist, dass sie aber im Inneren auf der ultimativen Suche sind nach einer tieferen Form von Liebe, von Frieden, von Freude. Das gibt eine Zerrissenheit, man ist zweigeteilt und die Sucht ist wie eine Art Teufelskreis. Sie bringt einem auch dazu, dass man der Wahrheit nicht genau ins Gesicht schauen möchte. Dass man oft auch längerfristig keine Verantwortung übernimmt für sein eigenes Leben, dass man mit der Sucht sehr schmerzhafte Gefühle jederzeit übertünchen kann. Der Glaube wird in diesem Spannungsfeld sowohl als Stütze wie auch als Beschwernis empfunden.»

Heilsame Zeichen

«Schön war, dass ich gehört habe: Auch wenn man gerade in der Sucht drin steckt, in diesen negativen Zirkeln, in Selbstabwertung und Scham, gibt es immer wieder Erlebnisse, wo man irgendwo eine Art Symbol entdeckt. Zum Beispiel eine Wolke am Himmel, die wie ein Kreuz aussieht, oder jemand entdeckt eine weisse Taube, hört ein Kinderlachen, und das sind dann so wie Zusagen von Gott, die jedes Mal als extrem heilsam und hilfreich wahrgenommen werden.»

Auseinandersetzung mit Gott

«Wovon mir auch mehrmals berichtet wurde», sagt Mirjam, «ist die Erfahrung der Auseinandersetzung mit Gott. Dass die Leute Gott fragen: ‹Wieso hilfst du mir nicht? Wieso hilfst du mir nicht, die Kraft aufzubauen, mich von meiner Sucht zu befreien, mich aus meiner eingeschränkten Existenz zu befreien? Was ist überhaupt der Sinn von meinem Leben?›. Also sehr existenzielle Fragen. Und dass die Menschen trotz dieser elementaren Fragen gesagt haben: ‹Die innere Überzeugung ist da: Gott hat einen Plan für mich.› Und das ist natürlich eine Grundlage, die auch durch eine solche Suchterkrankung hindurch sehr hilfreich sein kann.»

Sehnsucht nach Befreiung

«Zwei der Befragten,» erzählt Mirjam weiter, «waren auch schon in Heilungsgottesdiensten, wo sie in Form von Gebet tatsächlich eine Befreiung von ihrer Alkoholerkrankungen erlebt haben. Aber leider muss man auch sagen, dass diese Heilungen, die dort stattgefunden haben, dann nicht durch das ganze Leben getragen haben, nicht tiefgehend genug waren. Andere Betroffene haben mir gesagt: ‹Ich habe einen tiefen Glauben, dass ich nach diesem irdischen Leben befreit werde aus meinem süchtigen Körper, dass ich dann in eine leichtere, in eine friedlichere Welt komme›.» Eine Person, die eine Nahtoderfahrung gehabt hat, hat den Glauben an Gott verloren aufgrund von sehr beschwerlichen Lebensumständen und aufgrund dessen, dass er tatsächlich seine Sucht seit Jahren nicht überwinden kann. Und wenn der Glaube verloren geht, dann führt natürlich diese Sinnfrage oder diese Leere automatisch zu einem verstärkten Suchtverhalten. Interessanterweise hat aber dieser Mann dann auch gesagt: ‹Dass ich überhaupt noch am Leben bin, das ist ein Wunder›.»

Keine Wertung – aber Begleitung

Gefragt nach ihrer eigenen Erfahrung bei der Arbeit im Durchgangsheim meint Mirjam, dass es für sie bisweilen schwierig ist, auszuhalten, dass Menschen immer wieder in die Sucht zurückfallen. «Für mich ist es ganz wichtig, dass wenn Menschen an einer Sucht erkrankt sind, ich sie nicht werte, nicht verurteile, weil sie sich selber schon schambehaftet fühlen und weil ich weiss, dass das viel, viel langsamere Prozesse sind, die stattfinden müssen.
Was ich machen kann, ist, mit den Betroffenen anfangen zu überlegen, zu versuchen, mit ihnen herauszufinden, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten sie sich vorstellen könnten, bevor sie zu einem Suchtmittel greifen. Dabei gilt es für die Menschen auszuhalten, dass negative, belastende Gefühle auftauchen und nicht übertüncht werden. Wenn ich beispielsweise am Abend mit jemandem zusammensitze, der alkoholerkrankt ist und wir kommen in einem Gespräch auf nährende Inhalte, kann es gut sein, dass er auf sein Abendbier verzichten kann. Das ist jetzt aber nur die kleinste Möglichkeit.
Vielen Menschen, die bei uns leben, fehlt die Grundlage von weiteren sozialen Netzwerken, die sie stützen, auch an einer sinnvollen Aufgabe, die sie in der Gesellschaft wahrnehmen können. Sie sind am Rande der Gesellschaft, und um gesund zu werden beziehungsweise eine Sucht zu überwinden, fehlen zum Teil die Grundlagen. Ich bin mir bewusst, dass eine Suchtabstinenz oft viele Anläufe braucht, dass die Menschen in unserem Kontext ihre Süchte zum Teil nicht überwinden werden. Darum auch diese Nichtwertung. Ich bin mir auch bewusst, dass sehr viele traumatisierende, schmerzhafte Erfahrungen, die suchterkrankte Menschen mitbringen, längerfristig therapeutisch begleitet werden sollten. Ich gehe ganz fest davon aus – dies hat auch mit meinem Glauben zu tun –, dass ein Freikommen von diesen Fesseln möglich ist, auch durch eine tragende Kraft, durch Gott, durch die Liebe.»

Die Heilsarmee ist für Menschen da, die von Sucht betroffen sind.

Wir haben vielfältige Angebote, um Menschen praktisch und seelsorgerlich zu begleiten, je nach Situation und Bedürfnis. Finden Sie hier Angebote in Ihrer Region.

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